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Virologe klagt bei "Markus Lanz": "Die Politik hat uns beiseite geschoben"

Bei Markus Lanz klagte ein Virologe, dass die Politik inzwischen glaube, sie wisse alles besser in Pandemiefragen. Dr. Martin Stürmer warnte zudem vor möglichen Langzeitschäden durch COVID-19 und dem Zulauf großer Demonstrationen. Sollte der weiter wachsen, bekomme man "ein großes Problem".

Von den neuen Helden zu den neuen Deppen der Nation: So ähnlich kommen sich in Deutschland offenbar viele Virologen vor. Das machte am späten Dienstagabend bei "Markus Lanz" ein renommierter Vertreter seiner Zunft deutlich. Schon Ende Januar hatte der Frankfurter Privatdozent Dr. Martin Stürmer im ZDF-Talk über das damals neue Coronavirus und den ersten deutschen Infektionsfall im Landkreis Starnberg gesprochen. Inzwischen ist sein Kenntnisstand über den Erreger und die Lungenkrankheit COVID-19 ungleich größer. Doch auch der Frust über den Umgang mit der Pandemie im Land ist sichtlich gewachsen.

Dabei zeigte sich der Forscher eingangs durchaus selbstkritisch. Dass der Bevölkerung ständig neue Zahlen zur Erfassung des Infektionsgeschehens präsentiert werden, nannte Stürmer "kontraproduktiv". Der Virologe: "Wir haben mit der Infektionszahl angefangen, die Verdopplungszeit war dann relevant, dann die Reproduktionszeit, jetzt haben wir die geglättete Reproduktionszeit" - also eine R-Zahl, die lokale Ausbrüche aufs ganze Land bezogen nicht überrepräsentiert. So etwas sei "in der Kommunikation nach außen suboptimal".

Es sei schließlich "von Anfang an so gewesen", dass erst "ein Zusammenspiel der vielen Zahlen Rückschlüsse zulässt, wie die Pandemie sich verhält. Das wurde aber in der Form nicht nach außen kommuniziert." Stürmer: "Das macht es Verschwörungstheoretikern sehr leicht zu unterstellen, wir würden immer neue Zahlen erfinden, um das Land in Schach zu halten." Mit Blick auf die Demonstrationen im Land hat Stürmer die Befürchtung, "dass wir in den nächsten Wochen nicht tausend, sondern zehntausend auf den Straßen sehen. Dann kriegen wir ein großes Problem."

Virologe Stümer: Ein Virus, "das ein sehr breites Potenzial hat, viele Schäden zu verursachen"

Dass Virologen für viele nun zu Buhmännern geworden sind, ist dem Wissenschaftler nicht entgangen. Zwar habe er selbst bislang keine Morddrohungen erhalten wie sein Berliner Charité-Kollege Christian Drosten. Doch hat Martin Stürmer inzwischen den Eindruck, als würden die Überbringer der schlechten Nachricht wie in der Antike gleichsam geköpft. "Das sollte heute nicht mehr der Fall sein."

"Ich bin nicht nur Virologe, sondern ich bin auch Staatsbürger", erklärte Stümer. "Ich gehe gerne ins Restaurant, ich reise auch gerne. Trotzdem sehe ich eine Verantwortung, dass wir offen diskutieren, was die Krankheit bedeuten kann." Er selbst habe eine Erkrankung am Coronavirus hinter sich gebracht. Er habe sich beim Skifahren in Österreich angesteckt - auch ohne Après Ski - und dabei den Geruchs- und Geschmackssinn eingebüßt, der noch nicht vollständig wiederhergestellt sei. Eine ärgerliche, aber vergleichsweise harmlose Begleiterscheinung, so Stürmer. Doch treten bisweilen eben auch schwere Komplikationen auf.

"Es kann sein, dass das Virus über lange Zeit mehr Schäden im Körper anrichtet, als wir bis dato vermuten. Deswegen warne ich davor, basierend auf vier Monaten Erkenntnisgewinn über das Virus zu sagen: Es ist wurscht, wenn ich mich infiziere. Das ist sehr leichtfertig." Noch sei die Datenlage über verschiedene Organ-, Herz-Kreislauf- und neuronale Schäden zu dünn. Doch sollten sich erste Studien bewahrheiten, habe man es mit einem Virus zu tun, "das ein sehr breites Potenzial hat, viele Schäden zu verursachen".

Abschließend sprach Markus Lanz seinen Gast noch mal auf das veränderte Standing der Wissenschaft bei der Politik an, und da wurde er deutlich: "Es gab eine Zeit, da waren Virologen wichtig. Auch wenn unser Wissen über den Erreger marginal am Anfang war. Jetzt hat man als Virologe das Gefühl - ich will nicht sagen, der Depp der Nation zu sein - aber schon, von der Politik beiseitegeschoben zu sein."

Beispielhaft nannte Stürmer den Vorwurf des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, die Virologen würden alle paar Tage ihre Meinung ändern. "Das ist für uns nicht schön", klagte der Forscher. "Wissenschaft funktioniert anders als Politik. Wir müssen neue Erkenntnisse verarbeiten und umsetzen, wenn sich der Sachverhalt geändert hat. Das muss man offen kommunizieren dürfen, ohne gleich als Wendehals tituliert zu werden." Zwar wisse er, dass die Politik abwägen müsse zwischen den medizinischen, den sozialen und den wirtschaftlichen Aspekten der Pandemie. "Aber es ist schade, wenn so getan wird, als habe man genug gelernt von den Virologen und als wisse man jetzt alles besser."

Robert Habeck: "Klüger werden ist ja nicht verboten"

Rückendeckung bekam Martin Stümer umgehend von Robert Habeck: "Erstens soll es schon mal vorgekommen, dass Politiker ihre Meinung geändert haben und zweitens sind das wahrscheinlich die besseren Politiker, weil sie dann lernen", warf der ebenfalls im Studio befindliche Grünen-Chef mit einem Schmunzeln ein. "Klüger werden ist ja nicht verboten", so Habeck. Leider würden aber auch und gerade Politiker in der Öffentlichkeit "als Umfaller" gebrandmarkt, sobald sie ihre Meinung zu einem Sachverhalt überdenken.

Die etwas plumpe Frage von Markus Lanz, ob er bei der Pandemie-Bekämpfung "Team Laschet" oder "Team Söder" sei, wertete Habeck "als Teil des Problems", weil nun schon wieder der alte parteipolitische Streit über Sachfragen ausbreche. "Das sind die falschen Teams für mich", so Habeck brüsk. In der ersten Phase der Pandemie habe man aus seiner Sicht in Politik und Gesellschaft "schnell und vorsichtig reagiert", lobte der in Umfragen zuletzt abgestürzte Hoffnungsträger der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung im Bund. Nun, in der Phase nach dem Lockdown, finde er, "dass in einer völligen Auflösung der Formation nicht mehr nachvollziehbar ist, auf welchen Grundlagen welche Entscheidungen getroffen werden." Da sei etwas falsch gelaufen in der Phase zwischen Lockdown und Lockerung.