Exklusiv: Der Irak ist ein Pulverfass kurz vor der Explosion

Die Menschen in der Hafenstadt Basra gehen auf die Barrikaden. (Bild: Hadi Mizban/AP/dpa)
Die Menschen in der Hafenstadt Basra gehen auf die Barrikaden. (Bild: Hadi Mizban/AP/dpa)

Die Arbeitslosenquote ist hoch, die Versorgungslage ist katastrophal und in manchen Landesteilen soll der Islamische Staat wieder aktiv werden. Die Lage im Südirak als angespannt zu bezeichnen, wäre wohl eine glatte Untertreibung. Vielerorts lodern Strohfeuer, die das Potenzial zu einem Flächenbrand im Nahen Osten haben. Der Reporter Tobias Huch befindet sich derzeit in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Landes. Seine Einschätzungen sind beunruhigend.

Aufstände allerorten, die staatliche Ordnung in weiten Teilen des Landes kurz vor dem Zusammenbruch: Der Irak gleicht derzeit einem Pulverfass kurz vorm Explodieren. Schon seit Wochen brodelte es im Südirak: Die Menschen sind wütend, ihre Leidensfähigkeit ist erschöpft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Versorgungslage ist desolat. Lebensmittel und Wasser gibt es kaum noch. Zudem ist die Infrastruktur marode, die Stromversorgung bricht regelmäßig zusammen. Von den Wahlen im Frühjahr hatte sich die Bevölkerung eine Besserung der Lage erhofft, doch seitdem hat sich die Situation nicht ent-, sondern weiter verschärft.

Noch immer existiert keine funktionsfähige staatliche Führung, weil sich Regierungsbildung und Arbeitsaufnahme des Parlaments weiterhin verzögern. Und niemand weiß, wie lange dieser Zustand noch anhält, weil aufgrund des im Raum stehenden Verdachts massiven Wahlbetrugs alle Stimmen neu ausgezählt werden müssen. Doch selbst wenn eine neue Regierung um den bisherigen Ministerpräsidenten al-Abadi ihre Arbeit aufnehmen wird, ist fraglich, wie stabil sie sein wird. Die politische Zukunft des Irak ist völlig ungewiss – bis hin zu einem Militärputsch ist alles denkbar.

Haider al-Abadi und seine vom Westen unterstützte “Siegesallianz” waren bei den Wahlen am 12. Mai dieses Jahres nur auf dem dritten Platz gelandet. Der Sieg ging überraschend an den radikalen Geistlichen Maqtada al-Sadr und seine Liste “Sairun” (“Wir marschieren”). Durch Kooperation der beiden Parteien hätte der unterlegene al-Abadi dennoch an der Macht bleiben können. Daraus wird nichts – zumindest vorerst. Nach zahlreichen Beschwerden von Beobachtern über angebliche Wahlfälschungen entschied das alte Parlament in Bagdad, dass alle Stimmen per Hand erneut überprüft werden müssten. Solange das Wahlergebnis nicht vom obersten Gericht bestätigt wird, darf das neue Parlament nicht tagen.

Der Premier muss im Hubschrauber fliehen

In der vergangenen Woche kam es nun zur Eskalation der Krise, überall brachen Unruhen aus. Den Beginn machte Basra, einer Hafenstadt, die eingekeilt zwischen den Landesgrenzen Irans und Kuwaits liegt. Die dortigen Proteste und Ausschreitungen weiteten sich in kürzester Zeit auf den gesamten schiitischen Teil des Iraks aus – das heißt: bis an die Stadtgrenze Bagdads. Die zwischen Basra und Bagdad gelegene Stadt Najaf war nicht minder stark betroffen; Demonstranten stürmten den dortigen für das Land enorm wichtigen Flughafen. Diverse Airlines stellten daraufhin den Anflug auf Najaf ein, obwohl die Stadt eine der wichtigsten religiösen Pilgerstätten für Schiiten ist.

Gleichzeitig setzten die Aufständischen Büros von Parteien in Brand, unter anderem das der Dawa-Partei von Partei des Premierminister Haider al-Abadi. Nicht nur dadurch bekam al-Abadi die Proteste am eigenen Leib zu spüren. Als er sich, um die Proteste zu beruhigen, zu einem Meeting nach Basra begab, stürmten die Demonstranten prompt auf das Hotel zu, in dem der Premier sich aufhielt, und belagerten es. Angereist war al-Abadi mit seiner Wagenkolonne, verlassen konnte er das Hotel nur noch per Helikopter.

Auch in vielen anderen Städten des Südens griffen die Bürger die Infrastruktur sowie Einrichtungen der Regierung und Büros der schiitischen Parteien an. Ob in Babil, Karbala, Bsra, Najaf, Kut, Nasseriyah, oder Amara überall brodelt es. Am Freitag kam es zu landesweiten Demonstrationen und Kundgebungen, auf denen die Menschen so zeigen es Videos in den sozialen Netzen – lautstark ihren Unmut über den Einfluss des Irans auf die irakische Regierung zum Ausdruck brachten. “Iran raus aus dem Irak!” wurde vielerorts skandiert.

Es ist, als sei das Ventil eines Überdruckkessels geöffnet worden. Akuter Auslöser war die schlechte Grundversorgung, die Knappheit an Wasser, Nahrung und Strom; verschärft wurde der allgemeine Unmut durch die enorme derzeitige Hitze (über 50 Grad Celsius). Und jetzt droht die Krise in eine handfeste politische Revolution, gar einen Putsch gegen das gesamte System zu münden.

Auch in der Hauptstadt Bagdad werden die Proteste immer lauter. (Bild: AP/dpa)
Auch in der Hauptstadt Bagdad werden die Proteste immer lauter. (Bild: AP/dpa)

Chaos bringt Populisten auf den Plan

Die Regierung sperrte am Samstag landesweit die Social-Media-Netzwerke Twitter, Facebook, Instagram und Whatsapp. Auch in der friedlichen, stabilen und mit dem Irak eigentlich nur mehr auf dem Papier verbundenen Autonomen Region Kurdistan im Norden ging Social Media-technisch gar nichts mehr. Abhilfe schaffte nur die provisorische Einrichtung von Sperrumgehungen mittels VPN (Virtuell Privat Network), doch seit dem späten Samstagabend nutzten auch diese Behelfsmaßnahmen nichts mehr – der größte Internetanbieter der Region “Fastlink” wurde abgeschaltet. Im Süden war zu diesem Zeitpunkt bereits das gesamte Netz stillgelegt. Ein Anbieter von Satelliten-Internet spricht von einem deutlichen Anstieg der Reaktivierungen von Altgeräten und Verbindungen über das Satellitennetz – sie stellen die einzige verbliebene Möglichkeit dar, eine komplette Abschaltung des Internets im Land zu umgehen.

Populistische Politiker wie der schiitisch-islamistische Demagoge Maqtada al-Sadr versuchen derweil, aus dem Volkszorn Kapital zu schlagen, und fraternisieren mit den Massen. Sadr nannte die Proteste eine “Revolution der Hungernden”. Ob dieser Versuch der taktischen Verbrüderung jedoch auf fruchtbaren Boden fällt, darf bezweifelt werden: Die Menschen demonstrieren nicht mehr nur gegen Versorgungsengpässe und das tägliche Chaos, sie lehnen sich gegen das gesamte instabile politische System des Iraks auf. Ihre Geduld ist am Ende, und die Folgen sind noch nicht abzusehen.