Vollrausch im Mutterleib: Alkohol-Tabu zu unbekannt

Die fatalen Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft kennen nach Expertenmeinung zu wenige Menschen. Foto: Maurizio Gambarini

Viele Schwangere denken, dass ein Schlückchen Sekt oder ein Glas Wein ihrem ungeborenen Baby nichts ausmachen. Nach Daten des Robert-Koch-Instituts trinkt fast jede fünfte Frau in der Schwangerschaft Alkohol und riskiert damit, ein Kind mit bleibenden Schäden zur Welt zu bringen.

Andrea Benjamins betreut im Sozialpädiatrischen Zentrum Hannover kleine Patienten, die im Bauch ihrer Mütter einen Vollrausch erleben mussten. Die Kinderärztin sagt: «Viele denken, ein Glas schadet nichts. Aber jedes Glas schädigt. Die Frauen, die schwer kranke Kinder bekommen, müssen nicht täglich getrunken haben. Partymachen am Wochenende reicht schon.»

Nach Schätzungen werden bundesweit jährlich 10 000 Babys mit alkoholbedingten Schädigungen (FASD) geboren, davon mehr als 2000 Jungen und Mädchen mit der vollen Ausprägung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS), einer schwerwiegenden Behinderung.

Eine der häufigsten angeborenen Behinderungen wäre vermeidbar, wenn werdende Mütter abstinent bleiben. Politiker von CDU und SPD haben deshalb kürzlich für Warnhinweise auf Bier und Spirituosen plädiert. Dies ist schon lange eine Forderung des Vereins FASD Deutschland, einem Zusammenschluss mehrheitlich von betroffenen Pflege- und Adoptiveltern. Der Warnhinweis müsste mindestens das halbe Etikett von Alkoholika bedecken, sagt die Vorsitzende von FASD Deutschland, Gisela Michalowski. «Die Aufklärung reicht bei weitem nicht aus.»

Die Sozialpädagogin aus Lingen in Niedersachsen hat neben vier eigenen Kindern vier Adoptiv- und Pflegekinder mit FASD. Bis auf die jüngste Pflegetochter sind alle inzwischen erwachsen. Allerdings ist selbst der 30-jährige Adoptivsohn noch auf Hilfe angewiesen. «Er ist intelligent, aber scheitert im Alltag», sagt Michalowski.

Kinder mit alkoholbedingten Schädigungen bringen ihre Eltern, Erzieher und Lehrer regelmäßig an deren Grenzen. Sie laufen weg, zündeln, haben Wutanfälle und halten Regeln nicht ein. Das Eylarduswerk - eine Diakonische Kinder- und Jugendeinrichtung im Emsland - will im Herbst eine Wohngruppe einrichten, in der ein Teil der Plätze auf die besonderen Belange von FAS-Kindern zugeschnitten ist. Bereits im März eröffnete es eine FAS-Beratungsstelle in Bad Bentheim in Niedersachsen.

Ziel sei, die Krankheit frühzeitig zu erkennen, um Hilfe, Förderung und Kontrolle zu etablieren, sagt der Therapeutische Leiter der Einrichtung, Klaus ter Horst. Es gebe bisher viel zu wenige spezialisierte Ambulanzen und Beratungsstellen. Auch in Kindergärten und Schulen sei es wichtig, die Besonderheiten von FAS und FASD zu kennen, betont ter Horst. «Die Kinder lernen in Phasen gut, aber dann ist alles wie weggeblasen. Sie haben kein Nähe- und Distanzempfinden. Sie lernen nicht aus Erfahrung. Sie können Gefahren nicht abschätzen.»

Heilbar ist die Krankheit nicht. Das Zellgift Alkohol schädigt die Hirnentwicklung und oft auch andere Organe des Ungeborenen irreversibel. Allerdings kann die Entwicklung der betroffenen Kinder zum Beispiel durch Ergotherapie oder verhaltenstherapeutische Ansätze positiv unterstützt werden.

Andrea Benjamins warnt davor, die leiblichen Mütter an den Pranger zu stellen oder gar zu bestrafen. «Die schwer betroffenen Kinder haben häufig alkoholkranke, drogenabhängige oder psychisch kranke Mütter. Manche Frauen bemerken auch die Schwangerschaft sehr spät», sagt die Kinderärztin. Besonders fatal sei die Wirkung von Alkohol zwischen der dritten und zwölften Schwangerschaftswoche, wenn die einzelnen Organsysteme angelegt werden. Viele Frauen machten sich später Vorwürfe. Benjamins meint: «Wir müssen offen damit umgehen, es darf keine Stigmatisierung geben.»

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