Wählerverhalten in Deutschland - Woher die blaue Welle kommt - und wie sich der AfD-Erfolg stoppen lässt
Der Erfolg der AfD sorgt für hitzige Debatten. Obwohl sie in Brandenburg nicht stärkste Kraft wurde, verzeichnete sie den größten Stimmenzuwachs aller Parteien. Migrationsforscher Heiko Rehmann erklärt, warum viele Analysen den entscheidenden Faktor ausblenden.
Eine blaue Welle schwappt über den Osten der Republik und die Kommentatoren schnappen nach Luft. Wie ist es möglich, dass eine Partei immer weiter zulegt, vor deren Gefährlichkeit die ständige Tsunami-Warnung wie eine kaputte Sirene in allen Ohren hallt?
Unzählige Politiker und Journalisten haben sich bislang an den Wählern der AfD abgearbeitet. Die seien abgehängt, frustriert, lieblos erzogen, enttäuscht von ihrem Leben und wollten es deshalb „denen da oben“ mal zeigen.
Erstaunlicherweise haben Umfragen schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass AfD-Anhänger mehrheitlich ganz zufrieden mit ihrem persönlichen Leben sind und meistens nicht in prekären Verhältnissen vegetieren.
Dennoch hat am vergangenen Sonntag Joachim Gauck im ARD-Talk bei Caren Miosga den aktuellen Wahlerfolg der AfD mit der Sehnsucht ihrer Wähler „nach autoritärer Führung“ erklärt, die durch die DDR-Sozialisation noch immer vorhanden sei. Immerhin räumte der Alt-Bundespräsident ein, dass auch „die Unklarheit in der Migrationspolitik ein Nährboden für Nationalpopulisten“ sei.
Davon wollte Grünen Chefin Ricarda Lang nichts wissen, als sie nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen auf die Frage, ob die grüne Migrationspolitik gescheitert sei, antwortete: „Nein, denn ich glaube nicht, dass das das Thema ist, das die Menschen hier am meisten umgetrieben hat.“
„It’s the migration, stupid“
Hilfreich wäre es in diesem Zusammenhang gewesen, einen Blick in den aktuellen Infratest-Dimap-Deutschlandtrend zu werfen, in dem zu sehen ist, dass Zuwanderung/Flucht das mit großem Abstand dominierende Thema für immerhin 48 Prozent der Bevölkerung ist. Weit abgeschlagen rangieren dahinter mit 20 Prozent die Themen Wirtschaft und mit 12 Prozent soziale Ungerechtigkeit und Klimawandel.
77 Prozent der Deutschen fordern eine „grundsätzlich andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, damit weniger Menschen zu uns kommen.“ Zugleich sehen mehr Befragte bei der AfD eine hohe Kompetenz in der Asyl– und Flüchtlingspolitik (19 Prozent), als bei allen drei Ampel Parteien zusammengenommen (10 Prozent SPD, 6 Prozent Grüne, 2 Prozent FDP).
„It’s the migration, stupid“, möchte man Roten und Grünen zurufen, wenn sie es denn hören würden.
Möglicherweise wählen die meisten Menschen nicht aus einem diffusen Protestgefühl oder aufgrund charakterlicher Defizite die AfD sondern eben deshalb, weil ihnen die Zuwanderung am meisten unter den Nägeln brennt und weil sie die damit verbundenen realen Probleme sehen.
Dass die Rechtspopulisten neben mehrheitsfähigen Forderungen in der Migrationspolitik auch fragwürdige Positionen vertreten und kaum regierungsfähig wären, scheint für deren Anhänger nicht im Vordergrund zu stehen, solange das Migrationsthema dominiert. Wer den AfD-Wählern Motive unterstellt, die sie eventuell gar nicht haben, entmündigt sie und tut der Demokratie damit keinen Gefallen.
Auch das Wahlverhalten der verschiedenen Altersgruppen hat sich verschoben
Bis vor Kurzem galt noch das Bonmot „Wer in der Jugend nicht links ist, hat kein Herz und wer im Alter noch links ist hat kein Hirn.“ In Brandenburg hatte die AfD dagegen den meisten Zuspruch bei den jungen Wählern und die SPD bei den über 70-jährigen. Das ist leicht zu erklären. Zum einen ist die AfD in den sozialen Medien erfolgreicher als alle anderen Parteien und spricht damit naturgemäß stärker die Jugend an, zum anderen erlebt diese die Folgen der ungesteuerten Zuwanderung direkter.
In den Schulen und Schwimmbädern, auf dem Wohnungs- wie dem Heiratsmarkt geht es heute rauer zu, während die Apo-Rentner unter ihresgleichen im Altersheim sitzen und von der Rollator Revolution statt von der Weltrevolution träumen. (Die Lebensziele werden mit dem Alter meistens etwas bescheidener.)
Wäre noch der Ost-West Unterschied zu erklären. Alle Umfragen zeigen, dass die Ablehnung der ungeregelten Zuwanderung im Westen annähernd so hoch ist wie im Osten. Dennoch ist die Zustimmung zur AfD dort wesentlich niedriger. Das dürfte an der stärkeren Parteibindung der Westdeutschen liegen. Auch wenn man sich eine andere Migrationspolitik wünscht, ist man eher bereit, die Parteien zu wählen, die man immer schon gewählt hat, während das Wahlverhalten im Osten volatiler und stärker von aktuellen Stimmungen beeinflusst ist.
Vorsicht vor dem „Attributionsfehler“!
Warum wird aber immer wieder der Versuch gemacht, das Offensichtliche durch das weniger Offensichtliche zu erklären? Hier können wir nur spekulieren. Wer AfD-Wählern persönliche Rachemotive gegenüber „denen da oben“ unterstellt, leugnet deren eigentliches Anliegen und stellt damit die eigene zuwanderungsfreundliche Haltung als die moralisch überlegene und zugleich alternativlose Position dar, über den Richtigkeit gar nicht diskutiert werden muss.
Den Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen auf das Wahlverhalten der Menschen zu überschätzen und den Einfluss der äußeren Situation zu unterschätzen, macht es einfacher, die realen Probleme der Migration zu ignorieren und die eigene Politik und Ideologie nicht hinterfragen zu müssen. Die Sozialpsychologie nennt diese Form der kognitiven Verzerrung „Attributionsfehler“.
Dumm nur, dass diese Taktik nicht funktioniert, denn wer ein mulmiges Gefühl hat, wenn er nachts alleine unterwegs ist, wird sich nicht einreden lassen, dass dieses auf einer Illusion beruht. Wer sich eine andere Politik wünscht, wird sich auch nicht überzeugen lassen, wenn die bisherige Politik „besser erklärt“ wird.
Wenn sich die etablierten Parteien nicht zu einer grundsätzlich anderen Migrationspolitik durchringen, besteht daher die Gefahr, dass aus der blauen Welle über kurz oder lang ein Tsunami wird, der das Land unter sich begräbt.