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"Ich würde mir wünschen, es gäbe kein Internet"

"Es ist eine gefährliche Zeit für die Wahrheit." In einer überhitzten Gegenwart, in der es vermeintlich nur noch um das Extreme geht, macht sich Heinz Rudolf Kunze auf die Suche nach der Vernunft. Jetzt erscheint sein neues Album.

Bald schon sind es 40 Jahre. Vier Jahrzehnte auf der Bühne. Als Musiker, als Dichter. Als Schwärmer, als Mahner. Dabei hat es Heinz Rudolf Kunze in Zeiten wie diesen sicher nicht leicht. Auch auf seinem neuen Album zwingt der wortgewaltige Poet sein Publikum zum Hinhören. Kunze-Musik ist nicht fürs Nebenher gedacht. "Der Wahrheit die Ehre" (erhältlich ab 21. Februar) hat der 63-Jährige sein neues Werk überschrieben. Sein Ziel: ein bisschen Orientierung geben in einer aufgeladenen, hektischen Zeit. Ab Mitte April geht Kunze wieder auf Tour. Ein Gespräch über Wahrheit und Vernunft, über die Medien und die Philosophie, über Greta Thunberg und den alten, weißen Mann ...

teleschau: Kommen wir doch zunächst zu den wirklich wichtigen Themen für Sie: Sie durften in einem "Tatort" mitspielen ...

Heinz Rudolf Kunze: Ja, das war ein alter Traum von mir.

teleschau: Wie war's?

Kunze: Ich habe es immerhin bis zum Mordverdächtigen gebracht. Jetzt fehlt nur noch der Kommissar. Aber ich habe ja immer noch Ziele ...

teleschau: Welcher Ihrer Träume ist außerdem noch unerfüllt?

Kunze: Der "Tatort"-Kommissar steht da schon ganz oben. Am liebsten in einem Revier, in dem absolut nichts los ist. Delmenhorst zum Beispiel. Ich drehe einfach gerne. Ich weiß nicht, ob ich es gut kann. Aber ich gebe mir rasend viel Mühe.

teleschau: Sind Sie gut darin, sich zu verstellen?

Kunze: Das muss ich ja auch in meinen Programmen, etwa bei meinen Sprechtexten, bei denen ich auch oft andere Rolle einnehme. Das Spielen bin ich gewöhnt.

Die Wahrheit auf der Eisscholle

teleschau: "Deutschland", "Schicksal", diesmal "Wahrheit" - es sind schon die ganz großen Themen, die Sie zuletzt auf Ihren Alben beschäftigten.

Kunze: Es sind die wichtigen Themen. Seit langer Zeit beschäftigt es mich, auf welcher schmalen Eisscholle heutzutage die Wahrheit sitzt. Wie sie bedroht ist. Wie sie angegriffen wird von allen Seiten. Von Fake-News, von glatten Lügen, von Propaganda, von Hass, von Ideologien.

teleschau: Eines der großen Themen der Gegenwart ...

Kunze: Es ist eine gefährliche Zeit für die Wahrheit und für die Vernunft. Überall auf der Welt regieren tollwütige Kreaturen, verrückt Gewordene. Das Klima für Besonnenheit, Diskussion und den hellsichtigen Austausch von Argumenten ist vergiftet. Mit großer Sorge höre ich, dass an Hochschulen Diskussionen schon im Vorfeld von den Studenten verhindert werden, weil man über bestimmte Dinge angeblich gar nicht reden darf. Und auch sonst steht der herrschaftsfreie Dialog, von dem Habermas und Adorno geträumt haben, auf ziemlich verlorenem Posten. Man muss sich also Sorgen machen um die Wahrheit. Auf der ganzen Welt scheint sie sich in einem Rückzugsgefecht zu befinden.

teleschau: Sie haben Philosophie studiert. Wie definieren Sie Wahrheit?

Kunze: Streng genommen ist sie nur das, was beweisbar ist in einem naturwissenschaftlichen Sinne. Alles andere ist Glauben. Im philosophischen Sinne ist Wahrheit das Ringen um sie. Das Finden von ihr unter Berücksichtigung vieler Argumente. Das Überprüfen der eigenen und Ausleuchten anderer Positionen und der Versuch, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Und im religiösen Sinne ist es das Haben einer Wahrheit - was natürlich fragwürdig ist. Wer in eine Diskussion geht in der Annahme, die Wahrheit zu haben, diskutiert nicht. Er tut nur so.

teleschau: Jesus hat gesagt: Ich bin die Wahrheit.

Kunze: Ich auch.

teleschau: Wahrheit lässt sich sogar pachten.

Kunze: Richtig, wir leben eben in einer aufgeregten Zeit. Ein digitales Mittelalter, wenn Sie so wollen, in dem lauter durchgeknallte Sekten durch die Gegend rennen und jeder behauptet, die Wahrheit zu haben. Dabei findet kein Ausloten mehr statt, sondern nur ein Brüllwettkampf. Es ist ein hysterisches Klima, in dem jede klare Äußerung sofort einen Shitstorm bekommt.

teleschau: Liegt das nur an den neuen Gegebenheiten in der digitalen Welt?

Kunze: Der Hauptgrund scheinen mir schon die neuen Medien zu sein. Jedes Arschloch kann eben seine Meinung in die Welt rauspusten, während er früher damit am Stammtisch hängen geblieben ist.

teleschau: Sind nicht auch die Medien schuld, die die Relevanz von Einzelmeinungen überhöhen?

Kunze: Die Medien tragen sicher eine Mitschuld, aber sie stehen unter Druck. Sie konkurrieren in unserem kapitalistischen System untereinander, und die schrillste Meldung erhält die größte Aufmerksamkeit. Das Normale ist eben keine Nachricht. Es wäre für Menschen gesünder, wenn sie ab und an hören würden, dass ein Zug ab Düsseldorf auf seiner Fahrt nicht entgleist und um 10.15 Uhr in München eingetroffen ist. Aber das steht nirgendwo. Die Medien tragen eine Mitschuld, aber nicht die Alleinschuld.

"Die Welt ändert sich nicht nur zum Schlechten"

teleschau: Welche Rolle spielen in dem öffentlichen Diskurs die Kirchen? Sie selbst sind noch in der evangelischen Kirche.

Kunze: Ich kann es meinen beiden Pastorenfreunden nicht antun, auszutreten. Aber ich bin enttäuscht von den Kirchen, weil man so wenig von ihnen hört. Es gibt so viele Themen, zu denen die beiden großen Kirchen viel zu sagen haben sollten. Sie tun es aber nicht laut und deutlich. Die evangelische Kirche nehme ich fast überhaupt nicht mehr wahr, die ist in Sozialarbeit völlig verschwunden. Vielleicht hat sie in Anbiederung an den Zeitgeist zu viel getan und ist daher als eigenständige spirituelle Kraft nicht mehr sichtbar. Und die katholische Kirche hat so viel mit ihren eigenen Fragen wie dem Kindesmissbrauch zu tun, dass sich viele eher angeekelt abwenden. Beide Einrichtungen sollten eigentlich einen größeren Platz in der Mitte der Gesellschaft beanspruchen. Und sie würden ihn auch verdienen, wenn sie es gut machten.

teleschau: Sie sind womöglich aus der Mode ...

Kunze: Es gibt leider nur noch Moden, keinen tiefen Überzeugungen mehr.

teleschau: Wie positionieren Sie sich als Autor in Zeiten wie diesen? Eher der Gegenwart verpflichtet oder doch eher dem Grundsätzlichen, dem Vorausschauenden? Dürfen sich Künstler treiben lassen?

Kunze: Ich muss mich schon ein bisschen treiben lassen. Übrigens auch, was die Sprache betrifft. Andererseits betätige ich mich auch als Artenschützer für Redewendungen, die langsam aussterben. Ich kann mir vorstellen, dass viele junge HipHop-Freaks, die immer nur auf den Bildschirm glotzen, mit einer Redewendung wie "Nimm mit mir vorlieb" gar nichts mehr anfangen können. Deswegen kommt sie auf meiner Platte vor. Die ja auch mit der eher knorzigen, alten Formulierung "Der Wahrheit die Ehre" überschrieben ist. Sprachlich will ich manches in unsere Zeit rüberretten.

teleschau: Ein forsches Unterfangen in der digitalen Welt.

Kunze: Hier ein Satz dazu, den ich mir gut überlegt habe: Ich würde mir wünschen, es gäbe überhaupt kein Internet. Ich weiß, dass ich hier in die "Alter-Mann-Falle" tappe, aber ich glaube das trotzdem. Ich wünschte mir, man könnte die Zeit zurückdrehen und würde diesen ganzen Internetkram abschaffen: Er hat die Leute dümmer gemacht - und nicht klüger!

teleschau: Immerhin kann die Großmutter mit ihrer Enkelin skypen.

Kunze: Ja, ich weiß. Und bei Naturkatastrophen lässt sich schnell Hilfe organisieren. Aber wenn ich alle Argumente abwäge, komme ich immer noch zum Schluss: Das Schlechte überwiegt.

teleschau: Sie sprechen es selbst an - das Thema des "alten, weißen Mannes". Wie gehen Sie damit um?

Kunze: Ich versuche mich darüber zu amüsieren. Das ist eine Haltung, die man beim Älterwerden ab und zu einnehmen sollte. Ich muss ökonomisch mit meinen Kräften umgehen.

teleschau: Aber Sie wissen schon um die Wucht dieser Bezeichnung?

Kunze: Sicher. Aber ich habe als alter, weiser Mann einen Vorteil: Ich war schon mal jung, aber die Jungen waren noch nicht alt. Also weiß ich einfach mehr. Ich habe mehr erlebt, kann Dinge in Relation zueinander setzen. Ich kann die Wut und Aufgeregtheit der Jugend rund um Greta Thunberg verstehen, aber es würde ihnen guttun, mit alten Leuten, die schon viel erlebt haben, zu sprechen. Vielleicht sogar, sie als weise, alte Leute zu verehren, wie es manche sogenannte primitive Kulturen tun. Manche von denen schicken ihre Alten in den Wald, damit sie gefressen werden und niemandem mehr auf Tasche liegen, andere ehren ihre Alten und schätzen sie als Ratgeber.

teleschau: Wir leben eben in einer Zeit der Konfrontation.

Kunze: Diese große Aufgeregtheit verstehe ich. Aber wer länger lebt, hat schon viele Aufgeregtheitsmoden gesehen, und die Welt ist immer noch da. Gerade habe ich das Buch "Factfulness" von Hans Rosling gelesen. Ein Buch, das bei Greta Thunberg unter dem Kopfkissen liegen sollte. Der Mann - er starb vor drei Jahren - war Arzt und Sozialwissenschaftler, ein extrem gebildeter Polyhistor. Er schildert, was in den letzten 100 Jahren besser geworden ist, und das ist unglaublich viel. Nehmen Sie das sozial gerühmte und wirtschaftlich prosperierende Schweden, das vor 100 Jahren auf dem Stand war, auf dem Ghana heute ist. Die Welt ändert sich nicht nur zum Schlechten. Es gibt vieles, was besser wird.

"Alter Lehrer, siehst du mich ..?"

teleschau: Sie selbst werden im kommenden Jahr 65. Bekommen Sie eigentlich Rente?

Kunze: Nein, woher denn? Von wem denn?

teleschau: Womöglich haben Sie ja doch irgendwann, verzeihen Sie, richtig gearbeitet ...

Kunze (lacht laut): Natürlich nicht. Nur als Referendar in der Ausbildung am Gymnasium. Mehr habe ich in meinem ganzen Leben nicht arbeiten müssen. Ich werde also weitermachen, so lange ich kann und so lange es jemand hören will. Und sei es bis ins hohe Alter. Ich bin ja auch nicht so reich, dass ich nichts mehr tun müsste. Und ich tue es doch gerne, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.

teleschau: Was treibt Sie an?

Kunze: Ein scheinbar unerschöpflicher Spieltrieb. Ich kann nicht anders, als mit Worten und Tönen herumzuspielen. Das ist ein Drang, den ich nicht unter Kontrolle habe. Es ist die ewige Neugier auf das Herstellen von Wortzusammenhängen und Tonzusammenhängen. Ich kenne ein paar Kollegen, die lange unter Blockaden gelitten haben. Das ist für mich die schlimmste vorstellbare Hölle auf Erden.

teleschau: Womit zerstreuen Sie sich?

Kunze: Mit dem hemmungslosen Genuss von langsamen, behäbigen, deutschen Krimiserien wie "Rosenheims-Cops" oder "Hubert und Staller" - das kann ich stundenlang schauen. Mit meiner Frau gemein habe ich außerdem eine Fixierung auf das kriminalistische England: Barnaby, Miss Marple. Und mein Hund entspannt mich. Der lebt auf einer anderen spirituellen Ebene als ich.

teleschau: Sind Sie ein Spazierengeher?

Kunze: Zweimal am Tag gehe ich mit ihm raus. Ansonsten bin ich mit dem Hund ein Sofahocker.

teleschau: Gibt es Dinge, die Ihnen im fortgeschrittenen Alter körperlich zu schaffen machen?

Kunze: Nein. Ich glaube, es geht mir heute besser als mit 40. Ich bin gesund und habe immer noch Spaß an allen Dingen des Lebens.

teleschau: Anfang 2021 feiern Sie Jubiläum, dann stehen Sie seit 40 Jahren auf der Bühne. Sind Sie mit Ihrer Karriere zufrieden?

Kunze: Nein. Ich hätte gerne mehr erreicht als viereinhalb Millionen Tonträger. Grönemeyer schafft das mit zwei Platten. Ich brauche 38 dafür. Ich bin nie zufrieden. Andererseits muss ich sehr dankbar sein. Es ist toll, dass ich schon so lange mitspielen darf. Mal in der ersten Liga, mal in der zweiten, aber nie in der dritten.

teleschau: Würden Sie sich mehr Resonanz auf Ihre Texte wünschen?

Kunze: Die spüre ich schon von den Menschen, die ich direkt ansprechen konnte. Seit August 2015 gebe ich ja auch Solokonzerte, und gerade da merke ich das. Das sind wunderbare Abende, bei denen ich oft an Hanns Dieter Hüsch denken muss. "Alter Lehrer, siehst du mich?", frage ich dann. Er bezeichnete mich als einen seiner Kronprinzen. Das war eine der schönsten Ehrungen, die ich je erhalten habe.

Heinz Rudolf Kunze auf Tour:

17.04. Leipzig Haus Auensee

18.04. Cottbus, Stadthalle

19.04. Erfurt, Thüringenhalle

15.05. Neuruppin, Kulturhaus

16.05. Nürnberg, Serenadenhof

17.05. München, Tonhalle

19.05. Suhl, CCS

20.05. Hannover, Capitol

22.05. Hamburg, Große Freiheit 36

23.05. Rostock, Moya

24.05. Magdeburg, Amo Kulturhaus

04.06. Düsseldorf, Capitol Theater

05.06. Mainz, Frankfurter Hof

07.06. Blieskastel, Paradeplatz