Wahlkampf in Villenort und Grünen-Hochburg - Und dann sagt Ricarda Lang plötzlich: „Mir ist das Gendern ziemlich egal“

Glaubt, den Negativ-Trend der Grünen wieder umdrehen zu können: Vorsitzende Ricarda Lang, hier im Dresdner Villen-Vorort Blasewitz mit Bürgern im Gespräch.<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Glaubt, den Negativ-Trend der Grünen wieder umdrehen zu können: Vorsitzende Ricarda Lang, hier im Dresdner Villen-Vorort Blasewitz mit Bürgern im Gespräch.Ulf Lüdeke / FOCUS online

Kurz vor der Landtagswahl in Sachsen schaut Grünen-Chefin Ricarda Lang in einem todschicken Dresdner Villenviertel und in der Neustadt vorbei. Sie macht ein Bekenntnis, das aufhorchen lässt: „Wir müssen die Rolle der Moralisten komplett aufgeben, sofort.“

Einen Auftakt nach Maß, zumindest in architektonischem Sinne, hat Grünen-Chefin Ricarda Lang gewählt, als sie am Mittwochmorgen in Dresden ihren sächsischen Mitstreitern beim Endspurt für die Landtagswahl unter die Arme greift. Vom Schillerplatz im Villenvorort Blasewitz geht es hinunter zum „Blauen Wunder“, wie Dresdner die berühmte gusseiserne Loschwitzer Brücke nennen.

Das Bauwerk lässt die Grüne links liegen. Sie biegt samt Berliner und Dresdner Entourage auf der Elbpromenade nach Süden ab und stoppt an einer Parkbank, neben der ein älterer Herr im Rollstuhl sitzt und das Flusspanorama genießt.

Nach kurzer Vorstellung, wer sie sei, was sie hier gerade mache und ob sie ihm ein paar Informationen geben könne, antwortet der alte Herr in freundlichem Ton: „Ich wähle CDU!“ „Oh“, erwidert Lang, „aber das ist absolut in Ordnung. Das ist Demokratie!“ Nach einem kleinen Plausch wünscht der Pensionär der Parteichefin „alles Gute und viele Stimmen“, der Tross setzt sich wieder in Bewegung.

Ricarda Lang unterhält sich mit Bürgern.<span class="copyright">FOCUS online/Ulf Lüdeke</span>
Ricarda Lang unterhält sich mit Bürgern.FOCUS online/Ulf Lüdeke

 

Grüne kämpfen in Sachsen ums Überleben

Dresden ist als Hochburg der Grünen im gesamten Osten bekannt. Doch wer glaubt, dass im Villenort Blasewitz Langs Partei die Nase vorn hat, irrt. Das „blaue Wunder“ hat Einzug gehalten. AfD-Plakate wachsen hier mancherorts gleich im Fünferpack an Laternen in den Himmel.

Bei der Kommunalwahl am 9. Juni holte die Partei, die der sächsische Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ einstuft, in Blasewitz 20,8 Prozent, gefolgt von CDU (20,5 Prozent) und Grünen (15,5 Prozent).

Entspräche der Blasewitzer Schnitt der politischen Lage in Sachsen kurz vor der Landtagswahl am kommenden Sonntag, wäre die Welt aus Sicht der Grünen noch in Ordnung.

Doch die Realität sieht anders aus. Jüngsten Umfragen zufolge rangiert die CDU zwischen 30 und 33 Prozent, die AfD zwischen 30 und 32, das BSW, bislang nicht im Landtag vertreten, erreicht zwischen 11 und 15 Prozent. Für die Grünen hingegen, denen in Sachsen beim Straßenwahlkampf inzwischen oft blanker Hass entgegenweht, geht es mit prognostizierten fünf bis sechs Prozent diesmal ums politische Überleben.

Was wird, wenn nur CDU, AfD und BSW in den Landtag kommen?

Dass noch wesentlich mehr auf dem Spiel steht, werden Lang und ihre sächsischen Parteikollegen auch auf dem Spaziergang durch Blasewitz nicht müde, zu erwähnen. Wie sollen Koalitionen aussehen, heißt es, wenn am Ende nur CDU, AfD und das BSW in den Landtag kommen?

Im Gespräch mit einem Neumitglied von Sachsens Grünen: Parteichefin Ricarda Lang beim Wahlkampf in Dresden.
Im Gespräch mit einem Neumitglied von Sachsens Grünen: Parteichefin Ricarda Lang beim Wahlkampf in Dresden.

 

Um auf den letzten Metern vor dem Wahltag „jede Stimme zu mobilisieren“, spricht Lang in Blasewitz diverse Personen an. Darunter auch einen SPD-Politiker aus Rheinland-Pfalz, der über die Ampel schimpft, Bürger, die nur einen Flyer nehmen und eilig weitergehen und solche, die weder Informationen noch ein Gespräch wollen, aber dennoch höflich bleiben.

Ein Radfahrer Anfang 40 hingegen hält von selbst an, als er Lang an der Elbpromenade auf sich zukommen sieht. Er gehört zu den rund 400 Neumitgliedern, die den sächsischen Landesverband der Grünen in diesem Jahr auf rund 4000 Personen anwachsen lassen haben.

„Ich bin fassungslos, dass viele Menschen sich hier nicht mehr daran erinnern können, wie gut es ihnen heute im Vergleich zu DDR-Zeiten geht. Ich bin in die Partei eingetreten, als hier im Frühjahr die Angriffe auf Politiker zunahmen“, erklärt er der seiner Parteichefin.

Von den Anfeindungen und dem Hass, der vielen kommunalen Mandatsträgern inzwischen bei Wahlkämpfen in Sachsen und Thüringen entgegenschlägt, bekommt Lang in Dresden indes nichts mit.

Gefragt, wie sie denn die Grünen wieder aus dem Umfragetief herausholen wolle, verspricht die 30-Jährige, „dass wir wieder genauer hingucken werden auf die Alltagsprobleme wie Kitas und ÖPNV, anstatt zu viel über komplizierte Aufregerthemen zu reden“.

Lässt sich in einem Oxfam-Laden im Dresdner Villen-Vorort Balsewitz von der Belegschaft feiern und kauft ein grünes Kleid: Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen.<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Lässt sich in einem Oxfam-Laden im Dresdner Villen-Vorort Balsewitz von der Belegschaft feiern und kauft ein grünes Kleid: Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen.Ulf Lüdeke / FOCUS online

 

Grünen-Chefin Lang: „Das Gendern ist mir ziemlich egal“

Nachdem die Parteichefin ein Oxfam-Geschäft besucht und in einem Weinladen erfährt, dass der Klimawandel deutschen Winzern eher nützt als schadet, setzt sie den zweiten Teil ihrer Wahlkampftour am frühen Nachmittag auf dem Neumarkt von Dresden-Neustadt fort. An ihrer Seite: Omid Nouripour, der Co-Vorsitzende der Grünen.

Dieser Teil der Tour verläuft deutlich spannender als der vorige. In Dresden-Neustadt deklassierten die Grünen bei der Kommunalwahl mit 29,1 Prozent die gesamte Konkurrenz. Die AfD kam mit 7,7 Prozent nur auf Platz 5 - noch hinter der CDU (9,3 Prozent), SPD (13,4 Prozent) und den Linken (14,7 Prozent), die in den jüngsten Umfragen in Sachsen nur noch auf vier Prozent kommen.

Die Grünen haben einen Wahlkampfstand unweit eines Eiswagens platziert. Die Idee: Wer ein politisches Anliegen an die Grünen-Politiker formuliert, erhält im Gegenzug ein Eis.

Sagt, dass die Grünen ihre "Rolle als Moralisten sofort komplett zurückfahren müssen": Parteivorsitzende Ricarda Lang auf dem Dresdner Neumarkt.<span class="copyright">Ulf Lüdeke / FOCUS online</span>
Sagt, dass die Grünen ihre "Rolle als Moralisten sofort komplett zurückfahren müssen": Parteivorsitzende Ricarda Lang auf dem Dresdner Neumarkt.Ulf Lüdeke / FOCUS online

Nach rund 30 Minuten kommt Ricarda Lang mit einem jungen Mann um die 20 ins Gespräch. „Ich lehne Gendern ab“, sagt er, „weil es sprachlich für mich einfach keinen Sinn ergibt. Wie wollen Sie diejenigen wieder zurückholen, die die Grünen eigentlich wählen würden, die sich aber zum Beispiel durch die Gender-Debatte völlig ausgeschlossen fühlen?“

Die Antwort der Parteivorsitzenden verdutzt den Fragenden. „Mir persönlich ist das Gendern ziemlich egal. Das ist keine zentrale Frage. Es kommt doch viel mehr darauf an, was man sagt, statt wie man es sagt. Wir müssen davon wegkommen, Politik moralisierend zu machen.“

Junger Dresdner: „Für mich verkörpert Frau Lang bisher eher moralisierende Diskurse“

Die Zeit reicht nicht aus, ihm ein Eis anzubieten. Nach einem Selfie mit der Parteivorsitzenden setzt der junge Mann seinen Weg zügig fort. Auf Nachfrage erklärt er FOCUS online dann jedoch wenig später:

„Bislang war Ricarda Lang für mich eher jemand, der pseudo-moralisierende Diskurse bei den Grünen verkörpert. Könnten die Grünen das ablegen, dann wären sie sicher für viel mehr Menschen wählbar. Wenn mir diese Partei hingegen ständig erklärt, wie ich zu leben habe, macht sie mir ein schlechtes Gewissen. Das möchte ich aber nicht haben.“

Lang: „Müssen die Rolle des Moralisten komplett zurückfahren“

Später versichert Lang noch einmal, dass ihre Partei „die Rolle des Moralisten komplett zurückfahren muss, sofort“, weil sie zu viele Wähler damit verprellt habe.

Gefragt nach den Chancen, bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr den Negativ-Trend der Grünen aufhalten zu können, sagt sie, dass um grüne Ziele auch in Zukunft sicher weiter hart gestritten werde. Doch sei sie zuversichtlich, dass die Grünen diesen Trend „bis zur Bundestagswahl noch umdrehen können“.