Wahlkampf oder Wandel? - Fokus auf Migration formt die politische Landschaft neu - und stellt Grüne vor Probleme

Die Grünen wollen möglichst keine Begrenzung der Migration, obwohl es die Mehrheit der Bevölkerung anders sieht.<span class="copyright">Kay Nietfeld/dpa</span>
Die Grünen wollen möglichst keine Begrenzung der Migration, obwohl es die Mehrheit der Bevölkerung anders sieht.Kay Nietfeld/dpa

Migration, soziale Gerechtigkeit, sicherheitspolitische Fragen – Deutschland durchläuft eine politische Neuausrichtung, bei der pragmatische Themen wieder in den Vordergrund rücken. Sozialforscher Andreas Herteux erläutert, wie sich die Prioritäten der Parteien und der Gesellschaft verändern.

Wieso spielt das Thema Migration plötzlich in der Politik so eine wichtige Rolle?

Wir erleben spätestens seit einigen Jahren das schrittweise Ende der postmateriellen Vorherrschaft, das nun gelegentlich als „Rechtsruck“ bezeichnet wird, aber letztendlich nur eine Korrektur der politischen Landschaft darstellt.

Kurz zum Begriff: Postmaterialismus bedeutet sehr vereinfacht, dass bei einem Individuum, einer Gruppe oder gar einer ganzen Gesellschaft nicht nur die Grundbedürfnisse, sondern auch die materiellen Bedürfnisse so befriedigt sind, dass es nun möglich ist, sich höheren Werten und der persönlichen Selbstentfaltung zu widmen. Es bleibt aber nicht dabei, sich mit diesen Werten theoretisch zu befassen, sondern diese sollen ganz konkret elementarer Teil der Gesellschaft werden. Wer macht das? Wir haben in Deutschland beispielsweise ein postmaterielles Milieu, oft urban wohnend, gut situiert, häufig grün wählend und nicht selten verbeamtet, das ca. 12 Prozent der Bevölkerung ausmacht und in dieser Richtung lange Zeit treibend war und zeitweise so stark wirkte, dass selbst die CDU fälschlicherweise davon ausgegangen ist, den neuen Mainstream vor sich zu haben.

Typische Ideale sind daher Weltfrieden, Klimaschutz, Postkolonialismus oder globale Gerechtigkeit. Grundsätzlich sind das erst einmal positive Dinge. Wer möchte nicht glücklich und zufrieden in der bestmöglichen Welt leben?

Die konkreten Umsetzungsversuche waren dann aber zu oft Konstrukte wie die offenen Grenzen, die feministische Außenpolitik, der Versuch einer sozial-ökologischen Transformation oder Maßnahmen der Identitätspolitik, die, obwohl sie kritisier- und diskutierbar waren, mit einem ebenso großen Absolutheitsanspruch präsentiert wurden wie die Ideale selbst.

Eine sehr besondere Sicht auf Migration ist eine weitere von vielen dieser postmateriellen Erzählungen. Migration wird überwiegend als ein begrüßenswerter Prozess verstanden, bei dem wirtschaftliche, sozialpolitische und gesellschaftliche Erwägungen eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Dies wird faktisch nicht selten mit einer postkolonialen Perspektive begründet, d. h. die Aufnahme wird als grundsätzliche Bringschuld des Westens an den globalen Süden betrachtet, die vereinfacht ,vergangenes Unrecht kompensieren soll.

Kritischere Betrachtungen, die gerade aufgrund der illegalen Migration und der oft mangelhaften Integration durchaus angebracht erschienen, waren in den letzten Jahren weniger willkommen und auch reiner Pragmatismus hatte es schwer. Das hat sich nun mit dem Ende der postmateriellen Dominanz gewandelt.

Ist die Migration heute die größte Sorge der Deutschen?

Sie spielt eine zentrale Rolle, allerdings ist es auch an dieser Stelle interessant, den Verlauf der letzten Jahre zu betrachten.

Ende 2019 war der Themenkomplex „Klima, Energie und Versorgung“ das dominierende Element bei Befragungen zu den größten Sorgen der Bürger. Migration war bereits wichtig, wurde aber aus den bereits beschriebenen Gründen wenig thematisiert.

Teilweise identifizierte eine deutliche Mehrheit jedoch den genannten Bereich „Klima, Energie und Versorgung“ als dringlichstes Problem. Er wurde zeitweise von der Sorge über Corona vom ersten Platz verdrängt, schaffte aber die Rückkehr an die Spitze und hatte wesentlichen Einfluss auf die Bundestagswahl 2021. Nicht umsonst standen die Grünen vereinzelt bei über 26 Prozent und scheiterten nicht an der grundlegenden Zustimmung für ihr Kernprogramm, sondern am eigenen, schwachen Wahlkampf und der Spitzenkandidatin an einem besseren Ergebnis.

Die postmaterielle Vorherrschaft neigt sich aber, wie bereits angesprochen , ihrem Ende zu. Weder die Ideen noch deren praktische Umsetzungen haben es geschafft, eine Mehrheit der Menschen in unserem Land mitzunehmen. An Sendungsbewusstsein fehlte es nicht, aber Politik mit einem Anspruch der Alternativlosigkeit kann den notwendigen Prozess des demokratischen Ringens um den besten Kompromiss nur ersetzen, wenn sie auch absolut erfolgreich ist.

Dieser Erfolg ist streng genommen bereits seit der Finanzkrise nicht mehr zu erkennen, während zugleich viele Sorgen und Nöte der mannigfaltigen Milieus in Deutschland marginalisiert, teilweise sogar ignoriert und, so kritisch darf man sein, offen verachtet wurden.

Die Folge waren Milieukonflikte und dann Milieukämpfe. Daher wundert es auch nicht, wenn die Bedenken der Menschen, die man lange nicht wahrnehmen wollte, nun die Umfragen dominieren. Das ist zum einen der Themenkomplex „Ausländer, Integration und Flucht“ und, nimmt man verschiedene Faktoren wie beispielsweise Rentenhöhe, Wohnungsnot, gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Bürgergeld, Zusammenhalt sowie Lohn- und Preisentwicklung zusammen, das große Feld des Sozialen. Hinzu kommt auch noch der Punkt „Politikverdrossenheit“.

Eine Partei, die daher 2025 erfolgreich sein will, muss, nach aktueller Lage, einerseits berücksichtigen, dass der postmaterielle Zeitgeist nicht mehr vorherrscht und andererseits die großen Herausforderungen „Migration“ und „Soziales“ in den Mittelpunkt rücken.

  

Ist es daher Wahlkampftaktik, wenn sich plötzlich alle Parteien in der Frage rechter positionieren?

Es scheint tatsächlich so, dass sich viele Parteien im Zuge der bevorstehenden Wahlen in Brandenburg, aber viel wichtiger noch zum Bundestag 2025, stärker auf Migration und soziale Themen fokussieren und dabei Positionen einnehmen, die eher als pragmatisch oder sogar „rechter“ wahrgenommen werden.

Dies könnte als Reaktion auf die veränderten Prioritäten in der Bevölkerung, aber auch auf die Wahlerfolge von AfD und BSW sowie auf aktuelle Ereignisse wie Anschläge, interpretiert werden.

Wie bereits dargestellt, hat die postmaterielle Vorherrschaft, die Themen wie Klimaschutz und globale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellte, an Einfluss verloren. Stattdessen rücken nun wieder materielle und sicherheitspolitische Fragen in den Fokus, insbesondere Migration und soziale Gerechtigkeit im Inland.

Diese Verschiebung der Themenagenda spiegelt die Sorgen der Wähler wider, die sich zunehmend mit Fragen der Integration, illegaler Migration und sozialer Sicherheit beschäftigen. Parteien, die diese Themen stärker betonen, reagieren auf diese veränderten Wählerpräferenzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Wahlkampfzeiten Positionen eingenommen werden, die eine härtere Linie in der Migrationspolitik betonen. Dies könnte sowohl eine Strategie sein, um Wähler zurückzugewinnen, die sich von etablierten Parteien abgewendet haben, als auch ein Versuch, die politische Mitte neu zu definieren.

Insgesamt lässt sich sagen, dass diese Positionierung nicht nur als reine Wahlkampftaktik gesehen werden sollte, sondern auch als Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche Stimmung und die neuen Herausforderungen, die von den Wählern als dringlich empfunden werden.

Wie glaubwürdig ist dies, wenn das plötzlich auch die Ampel-Parteien tun?

Glaubt man den aktuellen Umfragen im Bund, dann erscheint es nicht wahrscheinlich, dass die Ampel-Parteien damit punkten können, allerdings werden bis zur Bundestagswahl noch viele Monate vergehen.

Ein härterer Kurs ist vor allem für die Grünen problematisch, denn sie besitzen einen starken postmateriellen Flügel und eine noch stärkere postmaterielle Basis, die eine Kehrtwende in der Migrationspolitik schlicht nicht mittragen wird, da diese nicht ihren Überzeugungen entspricht. Die Streitigkeiten sind vorprogrammiert. Am Ende wird man vielleicht über Verschärfungen verhandeln, sie aber möglichst verhindern und sich stattdessen auf das Kernklientel plus den Teil der Mitte, der den neuen Kurs der CDU ablehnt, konzentrieren.

Auch innerhalb der SPD gibt es einen nicht zu unterschätzenden postmateriellen Einfluss, der in den letzten Jahren eine dominierende Wirkung hatte. Hier ist es durchaus möglich, dass dieser zurückgedrängt wird. Ob man im Bereich Sozialpolitik punkten kann, wird man sehen.

Die FDP war in ihrer Geschichte schon immer thematisch flexibel und hat stets zur schwammigen Verwässerung geneigt. Gelegentlich, man verzeihe das Bild, flutscht man damit durch, man kann sich aber auch überflüssig machen.

In der Summe erscheinen große Erfolge der Ampel-Parteien aktuell nicht wahrscheinlich. Der Bundestagseinzug ist allerdings nur für die FDP gefährdet.