"Der größte Schmerz": Doku blickt auf Flutkatastrophe im Ahrtal zurück

Vor einem Jahr zerstörte die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Leben unzähliger Menschen. Was ist damals schiefgelaufen? Diese Frage stellte eine gemeinschaftliche Dokumentation von SWR und WDR am Mittwochabend im Ersten. Das Publikum blieb kopfschüttelnd und emotional aufgewühlt zurück.

Zerstörte Städte und traumatisierte Menschen: Die Folgen der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind auch ein Jahr später noch zu spüren. 
 (Bild: 2021 Getty Images/Thomas Lohnes)
Zerstörte Städte und traumatisierte Menschen: Die Folgen der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind auch ein Jahr später noch zu spüren. (Bild: 2021 Getty Images/Thomas Lohnes)

Es waren schockierende Eindrücke, die man erst einmal sacken lassen musste: Mindestens 189 Menschen, hieß es in der Dokumentation "Die Flut - Chronik eines Versagens" von Judith Brosel, Kai Diezemann, Torsten Reschke und Marko Rösseler am Mittwochabend im Ersten, seien bei der Flutkatastrophe 2021 allein in Deutschland gestorben. Zwei weitere werden offiziell noch immer vermisst. Ein Ahrbrücker Arzt, erzählte eine Nachbarin, habe in Begleitung seiner Frau und den vierjährigen Zwillingen Zuflucht auf dem Dach seines Hauses gesucht. Ein heranfliegender Hubschrauber versprach Hoffnung, drehte dann aber unverrichteter Dinge ab. Wenige Sekunden später sei das Haus von einer Teerplatte getroffen und mit den Fluten mitgerissen worden. Vater und Sohn konnten sich auf einen Baum retten und überlebten, Mutter und Tochter verließ im Laufe der Nacht die Kraft.

René Lehmler, Höhenretter bei der Feuerwehr Wiesbaden, war in der Nacht der Flut mit dem Helikopter im Einsatz. Er rettete einen Ahrbrücker Arzt und dessen vierjährigen Sohn. Die Mutter und Zwillingsschwester des Jungen ertranken in den Fluten.  (Bild: WDR)
René Lehmler, Höhenretter bei der Feuerwehr Wiesbaden, war in der Nacht der Flut mit dem Helikopter im Einsatz. Er rettete einen Ahrbrücker Arzt und dessen vierjährigen Sohn. Die Mutter und Zwillingsschwester des Jungen ertranken in den Fluten. (Bild: WDR)

"Das war der größte Schmerz", erinnerte sich der ADAC-Luftretter Stefan Goldmann an seinen Einsatz: "Die Menschen dachten: Jetzt kommt der Hubschrauber! Der wird uns jetzt helfen. Aber ich hatte keine Rettungswinde und hatte keine Möglichkeiten, in der Situation zu helfen, außer das Ganze zu dokumentieren und darauf hinzuweisen, was gerade unter mir passiert." Goldmann informierte die Rettungsleitstelle, schickte ihr sogar ein Video, welches das volle Ausmaß der Fluten zeigt. Doch anstatt die Menschen abwärts der Ahr zu warnen, wartete die Leitstelle "streng nach Vorschrift" auf eine Anweisung des Landrats - "vergeblich", wie es in der Dokumentation hieß.

Fehlende Kommunikation als größtes Problem

Situationsbeschreibungen wie diese gab es etliche im Rahmen der einstündigen Dokumentation. Wer alle hörte, blieb am Ende kopfschüttelnd zurück. Hätte das Ausmaß der Katastrophe begrenzt, hätten Menschenleben gerettet werden können? Hannah Cloke ist Professorin für Hydrologie an der Universität Reading in England. Sie hat das europäische Flutwarnsystem EFAS mitentwickelt: "EFAS soll Flutdaten aus ganz Europa sammeln, um den Behörden vor Ort dabei zu helfen, sich rechtzeitig vorzubereiten, zu evakuieren, möglichst früh zu warnen", erklärte sie. Fünf Tage vor Einsetzen der Flut in Deutschland schlug sie, nach einem Blick auf das System, Alarm: "Das war nicht normal! Überall lila, höchste Warnstufe! Da braute sich was zusammen in Deutschland und auch in anderen Teilen Europas."

Werner Michael Minwegen verlor seine Eltern im Hochwasser in Bad Neuenahr:
Werner Michael Minwegen verlor seine Eltern im Hochwasser in Bad Neuenahr: "Ich möchte auf jeden Fall geklärt wissen: Wer hatte die Verantwortung? Warum ist das falsch gelaufen? Und: Das, was hier geschehen ist, darf nicht noch einmal passieren." (Bild: WDR)

Die EFAS begann, Warnmeldungen zu verschicken: 25 sollten es bis zum Einsetzen der Flut gewesen sein. Doch der Ernst der Lage wurde von vielen Politikerinnen und Politikern nicht erkannt. Das größte Problem, so wurde in dem Film schnell klar, war die fehlende oder missverständliche Kommunikation: "200 Millimeter Niederschlag oder 'Der Fluss steigt auf vier Meter': Das versteht doch keiner", kritisierte Cloke: "Aber wenn Sie sagen: 'Die Flut erreicht dieses Grundstück und wird zur Haustür reinfließen.' Das verstehen die Leute!"

"Vielleicht hätten meine Leute im Haus dann noch mehr verstanden"

Der SPD-Politiker Stefan Kämmerling ist Mitglied in dem Untersuchungsausschuss, der die Versäumnisse der nordrhein-westfälischen Landesregierung aufdecken soll. Seiner Meinung nach, wäre es die Aufgabe des Umweltministeriums gewesen, die Informationen verständlich zu übersetzen. Die damalige Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) ist inzwischen zurückgetreten. Gleiches gilt für ihre rheinland-pfälzische Amtskollegin Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen), die in einer Pressemitteilung vom 14. Juli ausrichten ließ: "Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht." Für ein Interview stand Spiegel den Filmautoren nicht zur Verfügung.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul ist nach wie vor im Amt. Dass sein Ministerium als Notzentrum in Krisenlagen vorgesehen ist, die hydrologischen Lageberichte zur Flut allerdings nie erhielt, verwundert den 69-Jährigen: "Wenn Sie im Nachhinein hören, was es alles gibt, und Sie wissen, dieser Bericht hätte zusätzliche Informationen gegeben, vielleicht hätten meine Leute im Haus dann noch mehr verstanden, wie dramatisch die Lage ist", sagte er.

"Als eine der letzten Aktionen im Rathaus habe ich den Pfarrer angerufen"

Als Bürgermeisterin von Altenahr versuchte Cornelia Weigand
vergeblich, Hilfe für ihre Stadt zu organisieren. 
 (Bild: WDR)
Als Bürgermeisterin von Altenahr versuchte Cornelia Weigand vergeblich, Hilfe für ihre Stadt zu organisieren. (Bild: WDR)

Cornelia Weigand, die damalige Bürgermeisterin von Altenahr, nahm die Gefahrenlage ihrer Heimat hingegen keinesfalls auf die leichte Schulter: Als sie von einer Pegelprognose von über fünf Metern hörte, wollte sie den Katastrophenfall ausrufen lassen. Doch der zuständige Landrat, Jürgen Pföhler (CDU), war nicht zu erreichen. Man müsse noch Daten verifizieren und weitere Informationen einholen, sagte einer seiner Mitarbeiter. Was genau Pföhler in der Flutnacht gemacht habe, sei bis heute ungeklärt, hieß es später in der Doku. Gegen den pensionierten Politiker wird wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung in 134 Fällen ermittelt.

Weigand harrte bis Mittwochabend im Rathaus aus, wartete auf Hubschrauber oder andere rettende Gerätschaften. Gegen 21 Uhr musste sie das Rathaus wegen einer Pegelprognose von sieben Metern verlassen: "Ich habe hier als eine der letzten Aktionen im Rathaus per Mobilfunk den Pfarrer angerufen und ihm gesagt, was die Prognose ist und ihn gebeten, für unsere Menschen hier zu beten", erinnerte sie sich.

"Es gibt viele Lehren, die wir aus dieser Flut ziehen können"

Doch auch das Versagen der lokalen Medien wurde in der Doku thematisiert: Als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli in den überschwemmten Regionen der Strom ausfiel, war ein batteriebetriebenes Radio für viele Menschen die einzige noch funktionierende Informationsquelle. Während draußen die Fluten rauschten und Menschen in Todesangst um Hilfe schrien, sendete die populäre Radiowelle WDR 2 nur noch stündliche, später halbstündliche Flutnachrichten. Dazwischen lief die "ARD Popnacht". Wie befremdlich dies auf die verängstigten Menschen gewirkt haben muss, zeigte die Doku: "Und du machst zu Hause gerade Gelee, während deine Frau schläft", plauderte ein munterer Moderator, während Bilder von zerstörten Häusern und überfluteten Schlafzimmern zu sehen waren.

Die "ARD Popnacht" sei vom SWR aus Baden-Baden gesendet worden, hieß es. Dessen Intendant Kai Gniffke bereut die damaligen Fehler zutiefst: "In den ersten Stunden waren wir nicht gut. Wir haben die Dimensionen dieser Katastrophe in den ersten Stunden nicht ausreichend eingeschätzt und insofern werden wir immer mit der Frage konfrontiert bleiben: Hätten wir mehr tun können? Und hätten wir Menschenleben retten können? Das ist eine Frage, die mich, die uns nie mehr verlassen wird."

Die Hydrologin Hannah Cloke warnte vor weiteren Fluten:
Die Hydrologin Hannah Cloke warnte vor weiteren Fluten: "In Deutschland gibt es die nächste vielleicht schon im Sommer", sagte sie in der Dokumentation. (Bild: WDR)

"Es gibt viele Lehren, die wir aus dieser Flut ziehen können", bilanzierte die Hydrologin Hannah Cloke am Ende der Dokumentation: "Die wichtigste: Wir müssen uns jetzt vorbereiten, jetzt handeln, damit in Zukunft niemand mehr sterben muss. Fluten werden schnell vergessen, aber sie werden wieder passieren." Der Klimawandel werde künftige Fluten verschlimmern: "In Deutschland gibt es die nächste vielleicht schon im Sommer."

Im Video: Von der Politik im Stich gelassen? Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal