Das war Jordans legendärer letzter Tanz

Es benötigt eigentlich nur 42 Sekunden, um sich der Größe von Michael Jordan bewusst zu werden.

Am 14. Juni 1998 führen die Utah Jazz in der Schlussminute des sechsten Spiels der NBA-Finals gegen die Chicago Bulls mit 86:83.

Die Mannen aus Salt Lake City sind drauf und dran, die legendären Bulls in ein Spiel 7 zu zwingen. Doch jeder, der diese Hoffnung hatte, hat die Rechnung ohne Jordan gemacht.

Jordan mit Gamewinner zum sechsten Bulls-Titel

Mit einem schnellen Layup verkürzt Jordan den Rückstand und sichert seinem Team gleichzeitig die Möglichkeit des letzten Angriffs. Selbst wenn Utah seinen Angriff (erfolgreich) zu Ende bringt, bleibt Chicago noch genügend Zeit, um zumindest die Verlängerung zu erzwingen. Doch Jordan ist ein Killer.

Er ahnt, dass John Stockton am unteren Zonenrand seinen kongenialen Partner Karl Malone anvisieren wird und schlägt dem "Mailman" den Ball aus der Hand. Ballbesitz Chicago. Coach Phil Jackson nimmt keine Auszeit, denn der Ball ist bereits dort, wo er hingehört - in den Händen des größten Basketballers aller Zeiten.

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Auf den Rängen des Delta Center von Salt Lake City ahnen angsterfüllte Gesichter den legendärsten Wurf in Jordans Karriere voraus.

Jordan dribbelt gemächlich bis zur Höhe der Freiwurflinie und verschafft sich dort im Duell mit Gegenspieler Bryon Russell durch einen kleinen Klaps auf dessen Hintern Platz. Komplett offen steigt MJ zum Jumper hoch. Nichts als Netz. Es sind die Punkte 44 und 45 für den 35-Jährigen, 5,2 Sekunden sind noch zu spielen. Stocktons letzter verzweifelter Versuch auf der Gegenseite bleibt ohne Erfolg.

Chicago ist erneut Meister, zum sechsten Mal in acht Jahren, per Gamewinner sichert sich Jordan seinen zweiten Threepeat.

"The Last Dance" - Doku zur finalen Bulls-Saison

Ein besseres Drehbuch ist kaum vorstellbar. Mit seinem späteren Comeback bei den Washington Wizards versaut sich Jordan zwar den perfekten Abgang, doch zumindest sein letzter Tanz in Chicago ist unübertrefflich.

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Deswegen fiebert wohl die komplette Basketball-Familie dem 20. April entgegen, an dem die erste Folge von "The Last Dance" bei Netflix erscheint.

Die zehnteilige Dokumentation, die viele Stunden nie zuvor gezeigtes Material beinhaltet, beleuchtet die Dynasty der Bulls in den 90ern und geht dabei speziell auf die legendäre Saison 1997-98 ein, nach der das Team auseinanderbrach.

"Wir waren das großartigste Team aller Zeiten", meinte Scottie Pippen, der die Bulls ebenso verließt wie Jordan, Dennis Rodman, Luc Longley, Steve Kerr, Scott Burrell, Jud Buechler und Trainerlegende Phil Jackson.

Ein Filmteam durfte die Mannschaft während der gesamten Spielzeit begleiten, zudem führte ESPN Interviews mit über 100 Personen, um das Phänomen Jordan auf und abseits des Courts greifen zu können.

"Michael Jordan und die 90er-Bulls waren nicht nur Superstars des Sports, sondern ein globales Phänomenen", sagte Regisseur Jason Hehir. Den Film zu machen, sei eine "unglaubliche Möglichkeit gewesen, um den Einfluss eines Mannes und eines Teams zeigen."

Legendäre Bulls-Ära mit Jordan, Pippen und Jackson

Die Saison 97/98 war der krönende Abschluss einer Bulls-Ära, die mit Jordans erstem Titel im Duell mit Magic Johnson und den Los Angeles Lakers 1991 begann. Auch in den folgenden zwei Jahren war Chicago nicht zu stoppen, ehe Jordan selbst für ein vorläufiges Ende sorgte, indem er die komplette Sportwelt mit seinem Abstecher zum Baseball schockte.

Doch "His Airness" kehrte schnell zurück und bereits 1996 durfte der Guard nach einer historischen regulären Saison mit 72 Siegen seine vierte Trophäe in die Höhe strecken. Titel Nummer fünf folgte ein Jahr später im ersten Duell mit den Utah Jazz.

Danach hieß es: Vorhang auf für den letzten Tanz. Ein Jahr voller Turbulenzen. "Jeder Tag war ein Kampf", beschreibt der frühere Bulls-Guard und heutige Warriors-Coach Steve Kerr die Situation im Film.

Bereits vor der Saison wurde damit gerechnet, dass Jordan in sein letztes Jahr geht. Zudem verschlechterte sich das Verhältnis von Erfolgscoach Phil Jackson zu General Manager Jerry Krause, Scottie Pippen forderte erfolglos einen neuen großen Vertrag und plagte sich mit einer Rückenverletzung herum.

Trotz der Störgeräusche waren die Bulls wieder das Team, das es zu schlagen galt. 62 Siege bei nur 20 Niederlagen und die fünfte MVP-Trophäe für Jordan waren die Folge.

Sieben-Spiele Serie gegen Miller und die Pacers

"Meine Mentalität war es, rauszugehen und zu gewinnen. Koste es, was es wolle", erklärte Jordan.

Nach vergleichsweise einfachen Aufgaben in den ersten zwei Runden – 3:0 gegen die New Jersey Nets und 4:1 gegen die Charlotte Hornets – warteten im Eastern Conference Finale die Indiana Pacers. Reggie Miller und Co. brachten Jordan an seine Grenzen, doch nach einer spannenden Sieben-Spiele-Serie kam es zur heißerwarteten Neuauflage des Vorjahresfinals mit Utah, das deutlich mehr Regenerationszeit hatte.

Nachdem die Jazz Spiel 1 nach Verlängerung für sich entscheiden konnten, schlugen die Bulls mit drei Siegen in Folge, darunter einem 98:54 (!) in Spiel 3, eindrucksvoll zurück. Utahs 83:81 in der fünften Partie in Chicago brachte die Spannung aber zurück.

Jackson: "Was für ein Finish"

Vor heimischem Publikum schien sich das Momentum auf die Seite der Jazz zu schlagen, zumal Pippen erneut von seinem Rücken ausgebremst wurde.

Doch diese Herausforderung, diesen Raum für neue Heldentaten, liebte Jordan. Mit seiner One-Man-Show – er erzielte mehr als die Hälfte der Punkte seines Teams – hielt er die Bulls im Spiel, sein Gamewinner zum Titel war dann der finale Höhepunkt.

Für die Vollendung des Schlussakkords sorgte dann Jackson, als er sich mit dem wohl größten Basketballer aller Zeiten in den Armen lag: "Oh mein Gott, das war wunderbar. Was für ein Finish."