Was das bedeutet - Psychiater „sehr besorgt“: Kindern von heute fehlt wichtige Fähigkeit

Wenn Kinder kein Mitgefühl empfinden<span class="copyright">Getty Images</span>
Wenn Kinder kein Mitgefühl empfindenGetty Images

Mit anderen mitfühlen – diese Fähigkeit fehlt immer mehr Kindern. Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch beobachtet diese Entwicklung schon seit vielen Jahren mit großer Sorge. Wie Kinder Empathiefähigkeit entwickeln – und was passiert, wenn das nicht gelingt.

Empathie – das ist laut „Wikipedia“ die „Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.“

Man könnte auch sagen: Empathie ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass wir friedlich und demokratisch miteinander in Gesellschaften leben können. Denn ohne Empathie gäbe es keine Gemeinschaft, in der die Interessen all der unterschiedlichen Mitglieder berücksichtigt und geschützt werden. Gleichzeitig ist sie auch das Fundament für jede einzelne Beziehung, die wir im Leben eingehen.

Dass Kinder eine Empathiefähigkeit einwickeln, ist also enorm wichtig. Nicht nur, damit sie gesunde und glückliche Beziehungen mit anderen Menschen eingehen können, sondern auch für uns alle als Gesellschaft.

Die gute Nachricht ist, dass Kinder schon sehr früh diese Fähigkeit erwerben und sich entsprechend verhalten können. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass immer mehr Kinder damit offenbar Schwierigkeiten haben.

Immer mehr Kindern fehlt es an Empathiefähigkeit

Der bekannte Kinderpsychiater, Psychoanalytiker und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch erklärt im Gespräch mit FOCUS online, wie es aussehen kann, wenn ein Kind keine Empathiefähigkeit entwickeln konnte:

„Wenn ein Kind ein anderes schlägt und ein Erwachsener kommt und sagt: ‚Hey, das geht so nicht. Du hast dem Kind gerade wehgetan' aber das Kind schaut den Erwachsenen nur fragend an und versteht das gar nicht – dann fehlt diesem Kind Empathie; die Fähigkeit, sich in das andere Kind hineinzuversetzen und zu erfühlen, wie es ihm geht.“

Wird Empathiefähigkeit in der Kindheit nicht erworben, fehlt sie auch im Jugend- und Erwachsenenalter, wie ein weiteres Beispiel zeigt:

„Ich hatte einmal einen 16-Jährigen zur Begutachtung nach einer Schlägerei“, erzählt Brisch. „Ich habe ihn gefragt: Was glaubst du, wie es demjenigen ging, als du wieder und wieder zugetreten hast, nachdem er schon am Boden lag? Da sah er mich an und sagte: ‚Woher soll ich das wissen? Sie sind der Psychiater.‘ Da war keine Resonanz, kein Gefühl dafür, wie es dem anderen gehen könnte. Da waren nicht einmal Worte, um das Geschehene und die emotionalen Empfindungen bei dem Opfer zu benennen.“

Empathiemangel bei Schulkindern

Doch der Psychiater weiß, dass das keine extremen Einzelfälle sind. Vor kurzem habe er mit einer Lehrerin gesprochen, die gerade in Rente gegangen sei. Sie habe jahrzehntelang Fünft- und Sechstklässler auf dem Gymnasium unterrichtet, in den letzten Jahren sei ihr jedoch eine besorgniserregende Entwicklung aufgefallen:

Früher habe sie die Fünftklässler am ersten Tag begrüßen und dann mit dem Unterricht beginnen können. Empathiefähigkeit und soziale Regeln hätten die Kinder damals mitgebracht, bis auf wenige Ausnahmen. In den letzten Jahren habe sich das jedoch verändert. Sie habe regelrechte Schulungen für soziale und emotionale Kompetenz durchführen müssen. Viele Kinder seien nicht mehr in der Lage gewesen, sich emotional einzufühlen, nach anderen zu gucken und andere zu unterstützen. Sie habe mit Bildtafeln gearbeitet, um mit den Kindern anhand von Gesichtern die unterschiedlichen Gefühle zu erarbeiten, mit dem Ziel, dass die Kinder nach zwei Jahren einigermaßen als soziale Gruppe und Gemeinschaft funktionierten.

„Ich frage mich, wo wir da hindriften“

„Die Lehrerin sagte mir, dass das früher kein Thema gewesen sei. Die Kinder hätten aufeinander Rücksicht genommen und sich unterstützt. Zuletzt sei es aber vorgekommen, dass ein Kind auf dem Weg zur Turnhalle stürzt und alle anderen Kinder einfach vorbeilaufen. Früher hätte sich die halbe Klasse um das gestürzte Kind gescharrt, gefragt, ob es ein Pflaster oder Hilfe braucht. Heute bleibt kaum einer mehr stehen, um dem verletzten Kind zu helfen. Das hat der Frau in der Seele wehgetan. Geschichten wie diese machen mir Sorgen und ich frage mich, wo wir da hindriften. In zehn oder fünfzehn Jahren werden diese Kinder vielleicht selbst Väter und Mütter sein.“

Klar ist, dass es sich hier um ein Problem handelt, das nicht ignoriert werden darf. Gerade Eltern müssen hier genau hinsehen und gegensteuern, wenn sie merken, dass ihr Kind in dem Bereich Schwierigkeiten hat. Die gute Nachricht ist immerhin, dass die Fähigkeit zur Empathie nicht nur in der frühen Kindheit erworben werden kann – es ist auch später noch möglich, wenn auch schwieriger. Doch wie entwickelt sich die Fähigkeit, mit anderen zu fühlen?

 

Schon Babys zeigen erste Anzeichen von Empathie

„Die Grundvoraussetzung, damit wir Empathie überhaupt empfinden können, sind diese sogenannten Spiegelneuronen, die jeder Mensch von Geburt an in seinem Gehirn hat“, erklärt Brisch.

„Wenn ich jemanden sehe, der weint, dann springen meine Spiegelneuronen an und ich bekomme auch Tränen in meinen Augen und fühle mich traurig. Das erleben wir schon bei Babys: Wenn wir in einem Raum mit mehreren Babys sind und eins beginnt zu weinen, steckt es oft ein Baby nach dem anderen an, bis alle im Raum weinen. Das ist eine Art Affektansteckung, die über die Spiegelneuronen erfolgt. Diese speziellen Nervenzellen sind die anatomische Voraussetzung, damit wir überhaupt empathiefähig werden können.“

Die ersten Ansätze sehen wir schon bei Babys. Aber damit sich eine echte Empathiefähigkeit entwickelt, braucht es Brisch zufolge einfühlsame Bezugspersonen, die sich in die Gefühle des Babys einfühlen, mitfühlen, und den Gefühlen des Babys Namen geben. Den eigenen Gefühlen, die das Baby oder Kleinkind hat und auch den Gefühlen, die es in seinem Umfeld beobachtet.

Eltern oder Bezugspersonen müssen das Erlebte decodieren

Ohne Bezugspersonen, die das Erlebte gewissermaßen decodieren, würde ein Kind dank der Spiegelneuronen zwar mitbekommen, wenn eine andere Person zum Beispiel Schmerzen oder Angst fühlt – es hätte aber keine Möglichkeit, empathisch zu reagieren, weil es diese Gefühle nicht zuordnen könnte. Was bedeutet das, was ich erlebe? Und es gäbe keine Idee, wie darauf mitfühlend reagiert werden könnte.

„Diese Fähigkeit entsteht bei einem Baby, wenn es erlebt, wie seine Bezugsperson auf Grund des Mitfühlens entsprechend auf seine innere Gefühlslage reagiert.“ Wenn Babys dies sehr oft am Tag feinfühlig durch ihre Bezugspersonen erfahren, sehen wir schließlich schon bei Kleinkindern empathisches Mitreagieren gegenüber anderen Kindern oder auch Erwachsenen sowie deren Nöten.

Empathie ist nicht angeboren

Das sei dann sehr faszinierend zu beobachten, meint Brisch. Der Psychiater betont:

„Empathiefähigkeit ist nicht angeboren. Es ist keine Fähigkeit, die sich von selbst entwickelt, wie das Laufenlernen. Empathie muss in unzählig vielen Interaktion gelernt werden, das heißt, es braucht Bezugspersonen, die da sind, die mit dem Kind viele verschiedene Situationen erleben, sich ihrerseits empathisch einfühlen und den Gefühlen des Kindes Worte geben. Die in einer mitfühlenden Mimik und Sprachmelodie z. B. sagen : Ohje, du bist so traurig . Oder: Oh meine Güte, was für eine Wut, was für ein Ärger!  

Normalerweise seien das die Eltern, die in den ersten Monaten ständig dabei sind, mit ihrem Baby zu fühlen, wahrzunehmen und das Erlebte in Worte zu fassen. Das Baby spüre dann, dass seine Eltern im Moment fühlen, was es selbst gerade fühlt. Und sie handeln entsprechend einfühlsam gegenüber dem Baby, eben als Reaktion auf ihr Mitfühlen.

„Wenn das Baby dann eine stressvolle Situation bei anderen miterlebt, fühlen die Eltern oder nahen Bezugspersonen sich auch hier ein und versprachlichen das Erlebte. Und so bekommen Babys und Kleinkinder eine Art Übersetzung für das, was sie durch ihre Spiegelneuronen miterleben. Und wenn Eltern das mehr oder weniger gut machen, dann können Kinder mit eineinhalb Jahren schon sagen: ‚Mama traurig.‘ Oder: ‚Oh, Mama Ärger.‘“

Anzeichen für ein empathisches Kind

Kinder, die diese feinfühlige, empathische Form der Interaktion mit vertrauten Bezugspersonen erleben, können schon früh empathisch reagieren, indem sie zum Beispiel jemandem, der traurig wirkt, einen Arm um die Schultern legen, ein Taschentuch holen, oder durch ihre Mimik zu verstehen geben, dass sie gerade fühlen, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Ein empathisches Kind würde auch beispielsweise die Mutter rufen, wenn das kleine Geschwisterchen weint. „Das ist eine besondere Fähigkeit, das zu spüren, zu erleben, sich einzufühlen, innerlich eine Idee zu haben, was da los sein könnte und das dann auch noch in Worte zu fassen. Jemanden zur Hilfe zu rufen, das ist eine hochkomplexe, empathische Reaktion“, sagt Brisch.

Zu viele Kinder wachsen mit schlechten Betreuungssituationen auf

Doch wie kommt es, dass Kindern die Fähigkeit zur Empathie mehr und mehr abhandenkommt?

Natürlich spielen hier viele verschiedene Faktoren eine Rolle. Einer beschäftigt Karl Heinz Brisch schon seit vielen Jahren: die Versorgungsbedingungen von Kindern in Krippen, Kitas und Kindergärten.

„Die Art und Weise, wie Kinder aufwachsen, hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren doch sehr stark verändert. Immer mehr Kinder wachsen mit schlechten Betreuungssituationen auf. Ich will hier nicht falsch verstanden werden, ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Betreuung in Krippen oder Kitas, denn Kinder benötigen für ihre Entwicklung die Erfahrungen und das Miteinander und den Austausch mit anderen Kindern. Aber die Betreuungsbedingungen müssen eben so sein, dass Kinder sich gut entwickeln können. Und die sind heute in sehr vielen Einrichtungen einfach nicht mehr gegeben.“

Kinder würden heute immer früher in Einrichtungen betreut, in denen es viele Säuglinge und Kleinkinder im Alter von null bis drei Jahren, aber zu wenig Bezugspersonen gebe, die mit den Kindern diese für die Empathieentwicklung wichtigen Eins-zu-Eins-Erfahrungen leben und für die Kinder erfahrbar machen könnten.

 

„Diese Kinder werden Schwierigkeiten haben, eine Empathiefähigkeit zu entwickeln, wenn die Eltern das nicht am Nachmittag oder Abend intensiv nachholen können.“ Die Schwierigkeit sei jedoch, dass die Kinder nach einem oft langen Tag in der Kita müde seien und nicht mehr so aufnahme- und interaktionsfähig, als dass sie noch ausreichend gute emotionale Erfahrungen wie im hellwachen Zustand machen könnten. Auch die Eltern seien oftmals nach ihrem Arbeitstag erschöpft und hätten häufig nicht mehr so viel Zeit und Energie, um sich so intensiv mit den Kindern zu beschäftigen, zu co-regulieren und Gefühle zu benennen, wie diese es bräuchten, um wichtige Beziehungsfähigkeiten zu erlernen."

„Das wird sehr negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben“

„So haben immer mehr Kinder nicht ausreichend gute Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer Empathiefähigkeit. Das ist etwas, das mich sehr, sehr sorgt und wo wir dringend entgegensteuern müssten, denn es wird langfristig sehr negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben.“

Negative Auswirkungen spüren wir dann, wenn uns das Gefühl – und vor allem das Mitgefühl – für die verschiedenen Mitglieder unserer Gesellschaft abhandenkommt. Wenn Kinder, die heute keine Empathiefähigkeit entwickeln, in ein paar Jahren selbst Eltern werden – und sich nicht gut in die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen können, geschweige denn ihnen Empathie vermitteln. Probleme wie Mobbing und Gewalt könnten zunehmen, wenn Kinder nicht lernen, sich in ihr Gegenüber einzufühlen. Und Brisch sieht eine weitere Gefahr:

„Wenn Menschen nicht empathiefähig sind, bindungsunsicher und vielleicht auch noch traumatisiert – dann sind diese Menschen – was ihre Persönlichkeit und Identität angeht – leicht manipulierbar.“

Eine Maßnahme für mehr Empathie in Kitas und Schulen

Da Brisch diesen Trend schon seit Jahren beobachtet, hat er eine Maßnahme entwickelt, die Kindern in Kindergärten und Schulen Empathie näherbringen kann. Das Programm nennt sich B.A.S.E. Babywatching und beinhaltet genau das: Eine Mutter – oder ein Vater – kommt einmal pro Woche mit einem Baby in eine Kindergartengruppe oder Schulklasse. Die Kinder sitzen im Stuhlkreis und dürfen ca. 20-30 Minuten lang die Interaktionen zwischen Eltern und Kind beobachten und sich gleichzeitig darüber in der Gruppe austauschen.

Sie sehen, wie das Baby gewickelt oder gestillt wird, was die Eltern tun, wenn es weint und wie sie das Baby zum Schlafen bringen oder mit ihm spielen. Die Erzieher oder Lehrer wurden für diese einfache, gut umsetzbare Methode an einem Tag geschult und stellen den Kindern nun in Anwesenheit von Mutter und Baby Fragen: Wie geht es dem Baby gerade? Wie fühlt es sich wohl, wenn die Mama das macht? Wie würdest du dich fühlen, wenn du in dieser Situation das Baby oder der Papa wärst?

„Wenn wir das in einer Kindergartengruppe machen und in der Parallelgruppe, der Kontrollgruppe, nicht – dann sehen wir nach einem Jahr, dass die Kinder sich untereinander wesentlich mitfühlender verhalten, sie sind weniger aggressiv und weniger ängstlich als die Kinder der Kontrollgruppe“, sagt Brisch.

In einer Studie konnte Brisch diese positiven Auswirkungen des Programms in der Stadt Frankfurt am Main zwei Jahre lang beobachten und analysieren. Insgesamt nahmen 33 Kindergarten-Gruppen teil und 64 pädagogische Fachkräfte wurden ausgebildet. Untersuchungen in Österreich mit 250 Grundschulkindern und in Kindergruppen in München hatten zu vergleichbaren Ergebnissen geführt. „Es ist ermutigend, dass gerade diejenigen Kinder, die vor Beginn der Beobachtung von Mutter und Kind große Verhaltensprobleme hatten, besonders von dem Programm profitiert haben und die besten positiven Veränderungen zeigten“, sagt der Psychiater.

 

Babywatching gibt es in 50 deutschen Städten und mehreren Ländern wie England, Niederlande, Neuseeland und Israel. Es könnte eine Möglichkeit sein, den besorgniserregenden Trend des Empathiemangels zumindest zu bremsen. Doch dafür müssten Länder und Kommunen bereit sein, das Problem anzuerkennen und flächendeckend in seine Lösung zu investieren.