Weder Persönlichkeit noch Programm entscheidend - Warum Trump wirklich siegte und was deutsche Parteien davon lernen können

Es gab und gibt ein großes Potenzial der Unzufriedenheit in den USA wie in Deutschland, wenngleich oft auch aus unterschiedlichen Gründen.<span class="copyright">dpa</span>
Es gab und gibt ein großes Potenzial der Unzufriedenheit in den USA wie in Deutschland, wenngleich oft auch aus unterschiedlichen Gründen.dpa

Donald Trump ist zurück! Überraschen konnte das nur aus einer Blasenperspektive, die gesellschaftliche Wirklichkeiten ausblendet. Der Sozialforscher Andreas Herteux erläutert die Hintergründe des Sieges und erklärt, warum die gleichen Mechanismen auch bei der kommenden Bundestagswahl wirken werden.

Donald Trump ist wieder US-Präsident – eine Entwicklung, die manche Beobachter überraschte, obwohl gesellschaftliche Langzeittrends und Indikatoren darauf hingedeutet hatten. Es waren spezifische Konstellationen, die Trump erneut ins Weiße Haus brachten – weniger seine Persönlichkeit oder sein Programm. Der Erfolg hat demnach tiefere Wurzeln, die weit über „Make America great again“ hinausreichen.

Interessant dabei ist jedoch, dass ähnliche Rahmenbedingungen auch in Deutschland existieren und die kommende Bundestagswahl beeinflussen könnten. Um dies allerdings genauer beleuchten zu können, ist es notwendig, die heutige gesellschaftliche Situation aus einem etwas anderen Blickwinkel zu betrachten.

Die Gesellschaft zerfällt

Sowohl die deutsche als auch die amerikanische Gesellschaft ist keine homogene Masse. Das waren beide nie, doch in den letzten beiden Jahrzehnten gab es eine Tendenz zum Zerfall in immer kleinere Lebenswirklichkeiten. Ein Prozess der Individualisierung, der sich stetig weiter fortsetzen wird und bei dem die Forschung gar nicht in der Lage ist, mit der eingeschlagenen Geschwindigkeit Schritt zu halten, zumal im Grunde genommen auch weitere Faktoren wie die Beeinflussung durch die jeweilige Online-Realität oder die Migration berücksichtigt werden müssten, für die es nur eine unzureichende Datenlage gibt.

Das ist beinahe schon kritisch, denn jedes dieser Milieus hat eigene Vorstellungen davon, was für es normal sein muss, wie man sich zu verhalten hat oder was erstrebenswert ist.

 

Ein paar Beispiele: Das konsum-hedonistische Milieu möchte in erster Linie Spaß am Leben haben, die Prekären kämpfen um das eigene Überleben, und die Nostalgisch-Bürgerlichen sehen sich als die Mitte und Träger der Gesellschaft.

Diese Lebenswirklichkeiten, deren Grenzen fließend sind, leben allerdings in einer Gesellschaft zusammen. Manchmal nebeneinander, oftmals aber auch in Konkurrenz. Manche von ihnen haben sogar ein gewisses Sendungsbewusstsein, begreifen sich als Leitmilieus und damit als Antriebsmotor für Veränderungen, dem der Rest zu folgen hat.

Das gilt grundsätzlich in der alten und in der neuen Welt. Nur, und auch das muss erwähnt werden, sind die US-Milieus nicht mit den deutschen identisch, da die Staats- und Bevölkerungsstruktur sowie die historische Entwicklung nicht vergleichbar sind. Es gibt allerdings deutliche Überschneidungen – sozusagen ein grobes Grundmuster, das mehr oder weniger für alle westlichen Demokratien angewandt werden kann, dann aber eine individualisierte Ausprägung findet. Es sind zerfallende Gesellschaften nach gleichen Gesetzmäßigkeiten, aber mit teilweise unterschiedlichen Ergebnissen.

Der Balance geht verloren

Das alles ist erst einmal kein Problem. Heterogenität kann sogar demokratisch wünschenswert sein, solange eine Balance herrscht, welche die unterschiedlichen Interessen angemessen ausgleicht. Doch dieses Gleichgewicht ging – man verzeihe die kommende Simplifizierung – irgendwann verloren, denn sowohl in den USA als auch in Deutschland hat sich Stück für Stück, beginnend in den 90ern, eine bestimmte Lebenswirklichkeit durchgesetzt. Es war faktisch ein Marsch durch die Institutionen, der in den Universitäten begann und in vielen Schlüsselpositionen endete:

Postmaterielle Ideen als Leitbild einer moralischen Politik. Eine Denkrichtung, die das Vakuum füllen konnte, welches nach Ende des Kalten Krieges entstanden war und an der konservativ-liberale Gegenerzählungen, die es auch kaum gab, scheiterten.

Was bedeutet nun postmateriell? Am einfachsten ist es, dies am lebenden Objekt zu erklären. Hierzulande existiert ein ganzes Milieu, das mit diesem Adjektiv bezeichnet wird und ca. 12 Prozent der Bevölkerung umfasst.

 

In der Regel sind diese Leute gebildet, eher im mittleren Alter und leben überwiegend urban. Vermögen ist zumeist vorhanden, ebenso ein gutes Einkommen. Verbeamtungen sind keine Seltenheit, finanzielle Sorgen spielen eine untergeordnete Rolle, und man wählt überproportional die Grünen, vielleicht auch mal die SPD, eher selten Linkspartei oder Volt.

Die Grundbedürfnisse sind befriedigt und daher ist Zeit für ein Engagement für höhere Ziele, die einerseits einem moralisch hochstehenden Idealismus frönen, andererseits aber ebenso der eigenen Selbstverwirklichung dienen. Folgerichtig ist es auch ein Kennzeichen dieser Lebenswirklichkeit, dass man offen für den Weltfrieden, das Öffnen von Grenzen, Identitätspolitik und Anti-Kolonialismus ist und sich für den globalen Süden einsetzt. Das Sendungsbewusstsein ist dabei ebenso groß wie das eigene Selbstbewusstsein.

Die Dominanz postmaterieller Ideen

Das Problem dabei war, und auch hier sei die Vereinfachung ein gern gesehener Gast, dass diese Dominanz dazu geführt hat, dass die Bedürfnisse anderer Milieus immer mehr marginalisiert wurden. Schlimmer noch: Viele Lebenswirklichkeiten wurden in ihrem Grundverständnis angegriffen, da ihre Denkweisen und Verhaltensmuster nicht mit den Idealen des Postmaterialismus übereinstimmten.

Aus postmaterieller Sicht ist die Freude am Konsum des Hedonisten oft schlicht Sünde, und die Traditionen der Bürgerlichen sind nicht selten zu wenig progressiv und werden eher als rückständig begriffen. Sie müssten daher dekonstruiert werden.

Das Konfliktpotential zwischen Lebenswirklichkeiten bedingt sich selbstverständlich aus deren Unterschiedlichkeit, aber jetzt gab es auf einmal eine dominierende Vorstellungswelt und immer weniger ein Ringen um die richtige Meinung. Das mag simplifiziert klingen, aber die Lebenswirklichkeiten basieren auf Modellen. Diese haben immer ihre Grenzen und können nicht jede Grauzone, Schattierung oder Überschneidung erfassen. Dies ändert aber an der Grundaussage nichts:

Das Gleichgewicht hatte sich zugunsten eines Marktteilnehmers verschoben und die höhere Moral sollte alternativlos werden.

Da auch manche Medien postmateriellen Narrativen nicht ablehnend gegenüberstanden, wurde auch die wichtige vierte Macht nicht immer als ausgleichend wahrgenommen. Als Indikator dafür, dass dies nicht nur eine gefühlte Wahrheit sein könnte, könnte eine aktuelle Studie der TU Dortmund dienen.

Nach dieser gaben 41 % der befragten Journalisten an, die Grünen zu wählen. 16 % wählen SPD und 6 % die Linke. CDU (8 %) und FDP (3 %) sind dagegen völlig unterrepräsentiert. 61 % räumen zudem ein, dass sie zumindest teilweise dazu neigen, die Positionen der Parteien zu übernehmen, denen sie nahestehen.

Postmaterielle Inhalte scheitern an der Wirklichkeit

Das alles mag, und hier wäre eine allgemeine Debatte angebracht, akzeptabel sein, wenn denn die realpolitischen Ableitungen aus dem postmateriellen Ideenfundus erfolgreich gewesen wären. Dem war aber nicht der Fall. Und ja, es gab eine Pandemie, es gibt den Ukraine-Krieg. Doch Krisen sind Teil der politischen Wirklichkeit. Es gibt in der Regel nur wenige Jahre in einem Jahrzehnt, in dem nicht irgendeine grundlegende Herausforderung auf die Menschen wartet.

Veränderung ist Teil des Lebens, und der aktuelle globale Zeitenwandel auf ökonomischer, ökologischer, technologischer, politischer sowie gesellschaftlicher Ebene ist seit über einem Jahrzehnt wahrnehmbar. Es ist keine Überraschung, dass er den Westen besonders hart treffen wird.

Politik ist die Kunst der Anpassung an die Wirklichkeit. Jede Realpolitik muss sich daher am Ergebnis messen lassen, und in Deutschland scheiterte nicht nur die sozial-ökologische Transformation. Die Ampel-Regierung ist inzwischen sogar daran zerbrochen. Auch in den USA haben verschiedene Gesetze und Entscheidungen die Risse in der Bevölkerung vergrößert, nicht verkleinert.

Inzwischen geht es, um es vereinfachend zusammenzufassen, nicht nur um ideologische Konflikte, sondern um Grund- und Sicherheitsbedürfnisse, die nicht mehr von allen als ausreichend befriedigt betrachtet werden.

Aus diesem Konglomerat entstand bei jenen, die nun nicht mehr im Rampenlicht standen, zuerst innerer Widerstand. Daraus wurden, vereinfacht beschrieben, über die Jahre wahrnehmbare Milieukonflikte und schließlich Milieukämpfe.

Zu diesem Prozess beigetragen hat, dass es nun alternative Informationsquellen gab und das Internet sowie dessen verhaltenskapitalistische Mechanismen der Einbettung individuelle politische Überzeugungen zusätzlich formen oder erst geschaffen haben. Dies hat die Entkoppelung und Abwendung vom bestehenden politischen Angebot sicher noch dynamisiert und verstärkt. Grundsätzlich ist es sicher auch nicht verwegen, die These zu vertreten, dass das Internet massiv zur Milieubildung sowie Individualisierung beiträgt.

Die brodelnde Kraft der Unzufriedenheit

Am Ende entstand eine brodelnde Kraft der Unzufriedenheit, die durch eine pragmatische Politik des Ausgleichs milieuspezifisch hätte gebändigt werden können. Doch das geschah nicht. Aus Ignoranz? Weil man glaubte, die Menschen vom eigenen Weg überzeugen zu können? Oder stand der Gedanke im Vordergrund, dass die Lebenswirklichkeiten völlig unterschiedliche Gründe für den jeweiligen Missmut hatten und nie mit einer Stimme sprechen würden?

Es gab und gibt daher ein großes Potenzial der Unzufriedenheit, wenngleich oft auch aus unterschiedlichen Gründen, und dieses potenzierte sich sogar, als irgendwann, sowohl in den USA als auch in Deutschland, nicht nur die Lebensweisen, sondern auch grundlegende Bedürfnisse wie das nach Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden konnten.

In den USA war dieser Punkt bereits in den 2010er-Jahren erreicht. In vielen westlichen Demokratien ein paar Jahre später, man muss nur einen Blick darauf werfen, welche Parteien heute mit welchen Ausrichtungen regieren. In Deutschland dauerte alles ein wenig länger.

Warum Trump erfolgreich sein konnte

Doch zurück zu den USA. Donald Trump ist es daher 2016 meisterlich gelungen, das Potenzial vieler unterschiedlicher Milieus zu bündeln. Nicht aufgrund irgendeines Programms oder seiner Persönlichkeit, sondern weil es ihm gelang, die Kraft des Unmuts zu kanalisieren, während seine Rivalin Hillary Clinton sich ganz offen als Vertreterin postmaterieller Ideen präsentierte.

Trump scheiterte dann vier Jahre später. Person und politisches Angebot waren identisch, aber sein Konkurrent klug genug, sich staatsmännischer und weniger milieuzugehörig zu präsentieren. Daher gelang die Bündelung auch nicht mehr im ähnlichen Umfang.

In den nächsten vier Jahren verschärfte sich die Situation massiv. Es gab wenig Bemühungen, die Milieukämpfe zu befrieden. Hinzu kamen die massiven Teuerungen. Das Leben in den USA wurde unsicherer, die wirtschaftliche Lage für viele Haushalte schwierig. Migration, ein Lieblingsthema postmaterieller Überlegungen, bleibt ein ewiger Konfliktpunkt. Das schürte die Milieukonflikte wieder an, verstärkte sie, und am Ende präsentierte sich die Kandidatin Kamala Harris als Teil des alten, bereits gescheiterten Establishments und versuchte einen moralischen Wahlkampf zu führen. Es folgten die gleichen Mechanismen wie 2016.

Pragmatismus statt Ideologie

Was bedeutet das aber für Deutschland? Auch in Deutschland ist diese brodelnde Kraft vorhanden, allerdings besitzen wir einerseits ein pluralistischeres Parteiensystem als die USA und andererseits werden soziale Notlagen durch ein entsprechendes System abgefedert. Das macht es schwieriger für eine einzelne politische Kraft, das Potenzial auszuschöpfen, auch wenn es zum Teil bereits an die Ränder gerutscht ist.

Das Positive dabei ist, dass dies in einem beachtlichen, aber noch überschaubaren Umfang geschah. Zudem geht es auch hier zumeist nicht um politische Überzeugungen, sondern primär um eine nicht abgeschlossene Neuausrichtung, von der im Moment in Deutschland Parteien wie die AfD oder das BSW profitieren. Es handelt sich nicht um Protest, sondern um den Versuch der Orientierung, um die Suche nach einem neuen verlässlichen Rahmen in einer Zeit, in der Normalität und Sicherheit förmlich zerrinnen. Diese Menschen sind für entsprechende, milieu- oder noch besser individualisierte Angebote offen. Noch. Die Wanderungsbewegung würde sich, mit entsprechendem politischen Geschick, wieder umlenken lassen.

Gleich wie: Eine neue Regierung in Deutschland muss dringend die vorhandenen Milieukonflikte und -kämpfe befrieden und wieder eine Balance des Ausgleichs der Interessen herstellen. Ansonsten wird aus Neuorientierung womöglich Verstetigung an der falschen Stelle. Dies gelingt nur durch eine Politik des konstruktiven Pragmatismus und mit einer Konzentration auf die großen Themen unserer Zeit.