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"Jeder weiß, er kann der Nächste sein": Cem Özdemir teilt dramatische Warnung bei "Anne Will"

"Anne Will" zum ersten Mal seit Wochen (fast) Corona-frei! Der ARD-Talk blickte sorgenvoll in die USA und diskutierte auch die Frage: Hat Deutschland eigentlich auch ein Problem mit strukturellem Rassismus?

Wenn Amerika die Blaupause westlicher Demokratien ist, geben die sozialen Unruhen in Übersee derzeit Grund zu größter Sorge. Eine Weltmacht im Modus der Selbstzersetzung - das war auch der "Anne Will"-Redaktion Anlass, zum ersten Mal seit vielen Wochen ein anderes Thema als die Corona-Pandemie auf die Talk-Tagesordnung zu setzen.

Wobei: Ganz ohne Covid-19 ging es auch an diesem Sonntagabend im Ersten nicht ab. Dass die Viruskrise, welche die schwarze Bevölkerung deutlich härter als die weiße in den USA trifft, die aufgeheizte Lage zusätzlich befeuert, gilt als ausgemacht unter US-Kennern. Und US-Kenner hatte die ARD-Gastgeberin einige eingeladen. "Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus - wie viel Verantwortung trägt Präsident Trump für die Eskalation?", titelte der Polit-Talk. Um die Antwort war keiner der Anwesenden wirklich verlegen.

"Trump ist unter Druck, er schlägt um sich", gab CDU-Vorsitz-Kandidat Norbert Röttgen eine wenig kontroverse Einschätzung zu Protokoll. Der US-Präsident werde wohl "weiter auf Polarisierung setzen, um die Wahlen im November zu gewinnen". Ausgeschlossen sei es keinesfalls, dass ihm dieses Kunststück gelingt. Das befürchtet auch der "Tagesspiegel"-Korrespondent Christoph von Marschall, der daran erinnerte, dass die "Black Lives Matter"-Bewegung 2016 schon einmal abgeebbt sei, weil zu viele Radikale anzogen wurden.

"Polarisierung, Konfrontation nützt Trump", argumentierte von Marschall. "Wenn es zu Ausschreitungen und Plünderungen kommt, ist seine Wiederwahl wahrscheinlicher." Den Eindruck teilt Ex-Grünen-Chef Cem Özdemir: "Er will, dass die Leute Gewalt anwenden, damit er sagen kann, ich bin der Einzige, der für Recht und Ordnung sorgen kann." Für Donald Trump zähle alleine die Wiederwahl, "Machterhalt zum Preis der Zerstörung des Landes. Ich würde mich darauf einstellen, dass noch viel passieren kann."

US-Korrespondent schockiert Anne Will mit Berichten von Polizeigewalt

Wie viel jetzt schon an Ungeheuerlichem in den USA geschieht, schilderte der aus Washington zugeschaltete US-Korrespondent Stefan Simons. "Die Staatspolizei hat auf uns abgefeuert, wir sind glücklich davongekommen", kommentierte der Journalist zuvor eingespieltes Videomaterial, das zeigt, wie er und sein Kamerateam polizeilicher Willkürgewalt ausgesetzt waren - verstörende Szenen, die man in einer Demokratie nicht vermuten würde.

Solche Übergriffe gegen Pressevertreter seien inzwischen an der Tagesordnung, wusste der seit 20 Jahren in den USA arbeitende Reporter zu berichten. Man erlebe eine "Militarisierung der Polizei", mit fatalen Folgen. Zuletzt seien 279 Überfälle auf die Presse in einer Woche gezählt worden. Er selbst kenne Dutzende Kollegen, die verletzt worden seien. Eine Kollegin sei auf einem Auge erblindet, nachdem sie von einem Gummigeschoss getroffen wurde.

Das Ganze hat offenbar Methode: "Die Polizei will nicht, dass die Presse dokumentiert, was im Land schiefläuft", glaubt Simons, und das komme nicht von ungefähr: "Der Fisch stinkt vom Kopf. Wenn der Präsident in die Köpfe einhämmert, dass wir die Lügenpresse sind, hat das einen Effekt. Es gibt jede Menge Polizisten, die bereit sind draufzuknüppeln." Auf der Gegenseite habe der Fall des durch Polizeigewalt getöteten Afroamerikaners George Floyd eine "Massenwut" entfacht, "die ich noch nicht gesehen habe". Die "Black Lives Matter"-Bewegung sitze "auf einem Feuerkessel, und der ist gerade dabei zu explodieren".

"Vier Monate Corona-Pandemie, vier Jahre Trump, 400 Jahre Rassismus", brachte die "Spiegel"-Kolumnistin Samira El Ouassil die US-Unruhen auf eine mathematische Horrorgleichung. Die wollte "Tagesspiegel"-Korrespondent von Marschall so nicht stehen lassen: Die Situation der Afroamerikaner habe sich in den letzten Jahrzehnten stetig verbessert. Nur eben noch nicht für genügend Menschen. Auch gebe es derzeit sehr viele weiße Polizisten, die sich mit der Bewegung solidarisierten, das dürfe man nicht übersehen. Und schließlich: "Es gibt auch Probleme in der schwarzen Community, das sind nicht alles Unschuldige." Einspruch von Buchautorin und Podcasterin Alice Hasters: Wenn man schwarze Menschen zusammenpferche und sie vom Zugang zu Ressourcen abschneide, dann entstehe automatisch Bandenkriminalität. Özdemir pflichtete bei: "Der Rassismus ist ein weißer Rassismus. Die Weißen müssen ihren Rassismus aufarbeiten."

Özdemir: "Wir haben den Konsens, aber der Konsens wurde mit Blut geschrieben"

Womit Gastgeberin Anne Will fast spielend bei einem naheliegenden Aspekt der US-Krise angelangt war: Gibt es solch ein strukturelles Rassismus-Problem auch in Deutschland, einem Land, in dem die Statistik für das vergangene Jahr 8.585 sogenannte "Hassdelikte" ausweist? Von Einzelfällen könne man da nicht reden, konzedierte CDU-Mann Röttgen, strukturellen Rassismus gebe es in Deutschland nach seiner Einschätzung dennoch nicht: "Unsere Fähigkeit, als Gesellschaft Defizite anzuerkennen, ist vorhanden." Was Podcasterin Hasters zur Nachfrage verleitete: "Wo ist denn der Unterschied zwischen 'keine Einzelfälle' und 'struktureller Rassismus'?"

Als Beleg, dass auch in Deutschland Verdachtsfälle rassistisch motivierter Polizeigewalt oft nicht rückhaltlos aufgeklärt würden, nannte Samira El Ouassil den einschlägigen Fall des Asylbewerbers Oury Jalloh, der 2005 gefesselt in einem Polizeirevier in Dessau ums Leben kam. El Ouassil: "Es ist eben so, dass Polizei und Militär bestimmte Milieus anziehen." - "Ich widerspreche nicht", warf Norbert Röttgen ein, "aber ich glaube, dass wir in Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens haben, das anzugehen".

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Eine gewisse Nonchalance mochte man da heraushören, die Cem Özdemir zum Abschluss des Talk-Abends noch mal mit rhetorischem Beben auf den Plan rief: "Diesen Konsens gibt es erst seit Walter Lübcke", erinnerte der Grünen-Mann an den 2019 ermordeten CDU-Politiker. "Jeder weiß, er kann der Nächste sein." Noch in den 90er-Jahren, kritisierte Özdemir auch am Beispiel Rostock-Lichtenhagen, habe der Staat absichtlich weggeschaut gegen Gefahren von rechts. "Wir haben den Konsens, aber der Konsens wurde mit Blut geschrieben. Viele Menschen sind gestorben, die nicht hätten sterben müssen, wenn man rechtzeitig hingeschaut hätte."

Video: Weltweite Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt