Werbung

Wenige Millimeter dünner Stoff trägt 150 Menschen

Vor Libyens Küste hat sich erneut eine Tragödie abgespielt. Viele Flüchtlinge kamen ums Leben. Auf dem Rettungsschiff „Aquarius“ ist die Crew von der Meldung wenig überrascht. Unsere Reporterin reist mit und berichtet.

Das Schiffsunglück ereignete sich vor der Küste von Libyen auf dem Mittelmeer, viele Menschen kamen dabei ums Leben. Die Flüchtlinge hatten die Überfahrt nach Europa mit einem Schlauchboot gewagt. Ein Sprecher der libyschen Marine sagte der Nachrichtenagentur Ansa, dass nach Angaben von Überlebenden mehr als 120 Menschen in dem Boot gewesen waren. Darunter sollen auch Frauen und Kinder gewesen sein.

Rund 90 Menschen würden noch vermisst, sagte ein örtlicher Behördensprecher in der libyschen Stadt Zuwara. Überlebende hätten sich fünf Tage lang an das sinkende Schiff geklammert, bevor dieses auf einen Strand aufgelaufen sei.

Auf der Aquarius, dem Rettungsschiff von SOS Mediterranée und Ärzte ohne Grenzen, das derzeit 25 Seemeilen von der libyschen Küste patrouilliert, löst die Meldung Trauer aus. Überrascht ist die Crew indes nicht. Denn seit Tagen sind die Wetterbedingungen schlecht. Es bläst starker Wind in Richtung libysche Küste. Die Wellen dort sind so hoch, dass Boote nur schwer ablegen können. Die Menschen, die sich trotzdem aufs Meer hinaus begaben, schafften es womöglich nicht in die Zone, in der Rettungsschiffe fahren, heißt es. Sie kenterten schon vorher.

Dennoch fahren selbst in den Wintermonaten unter wesentlich schwierigeren Bedingungen Flüchtlinge aufs Meer hinaus, erzählen Crewmitglieder. Und das auf Booten, die hoffnungslos überfüllt sind und für die lange Überfahrt nach Europa völlig ungeeignet.

Max Avis, der die Einsätze von SOS Mediterranée auf den kleinen Rettungsbooten leitet, hält einen Gummifetzen in der Hand. Gelb auf der einen, blau auf der anderen Seite. Er hat ihn nach einem Rettungseinsatz aus einem Schlauchboot geschnitten. Der Fetzen ist wenige Millimeter dünn. Wenige Millimeter Stoff, die schon mal 150 Menschen transportieren.

Die Geflüchteten können tagelang bei großer Hitze auf dem Meer gewesen sein, ohne ausreichend Wasser und Nahrung. Avis schildert, wie er mit seinem Team Boote findet, in denen Menschen bis zur Brust im Wasser sitzen. Auf den toten Köpern derjenigen, die es nicht geschafft haben. Im Wasser schwimmen nicht nur Fäkalien. Auf der Brühe schwappt auch ausgetretenes Benzin, das Haut und Atemwege verätzt.

Menschen wagen die gefährliche Überfahrt, da die Bedingungen in Libyen ihnen kaum Alternativen bieten. Dort liefern sich Milizen bewaffnete Konflikte, Augenzeugen berichten von Entführungen, Menschen werden unter inhumanen Bedingungen in Internierungslagern festgehalten.

Anfang September hatte sich Joanne Liu, die internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, in einem Brief an die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union gerichtet. Nach einem Besuch in libyschen Internierungslagern schrieb sie: „Menschen werden wie Waren behandelt. Sie werden in dunkle, schmutzige und stickige Räume gepfercht. Frauen werden vergewaltigt und dann gezwungen, ihre Familien zu Hause anzurufen und von ihnen Geld zu verlangen, damit sie freikommen.“

Gefangene berichteten, dass die libyschen Küstenwache sie in die Internierungslager gebracht habe und dass sie dort geschlagen würden, sogar mit Peitschen. In ihrem Brief hatte Liu Libyen als „nur das jüngste und extremste Beispiel einer europäischen Flüchtlingspolitik“ bezeichnet, „die zum Ziel hat, Menschen außer Sichtweite Europas zu halten.“

Dazu erklärte die EU-Kommission, die EU werde gemeinsam mit der libyschen Regierung und den Vereinten Nationen daran arbeiten, diese Migrantenlager zu verbessern.

Bereits zuvor hatten unterschiedliche Nichtregierungsorganisationen, Kirchenvertreter sowie Politiker die Kooperation zwischen den Europäischen Staaten und dem Bürgerkriegsland Libyen kritisiert. Die EU unterstützt die lokale Küstenwache, die Migranten auf der Fahrt nach Europa stoppt, mit Ausrüstung und Ausbildung.

Unsere Reporterin Anna Gauto berichtet regelmäßig von ihren Erlebnissen auf der „Aquarius“. Lesen Sie hier „Libysche Küstenwache ruft um Hilfe“, „Notfalltraining auf hoher See“ und „Die umstrittenen Einsätze vor Libyens Küste“.