Wichtiges EuGH-Urteil - EU könnte Millionen Diesel-Fahrzeuge rückwirkend für illegal erklären

Der Automobilclub von Deutschland (AvD) hat sich erneut gegen Diesel-Fahrverbote ausgesprochen, weil diese nicht den erhofften Effekt gebracht hätten<span class="copyright">Automobilclub von Deutschland</span>
Der Automobilclub von Deutschland (AvD) hat sich erneut gegen Diesel-Fahrverbote ausgesprochen, weil diese nicht den erhofften Effekt gebracht hättenAutomobilclub von Deutschland

Ab Frühjahr 2025 müssen Millionen Autobesitzer damit rechnen, dass ihre Fahrzeuge stillgelegt werden. Professor Thomas Koch erklärt, warum das anstehende Urteil so brisant ist - und die EU aus seiner Sicht völlig realitätsfremd agiert. Ein Gastkommentar.

Es ist extrem brisant, was der Generalanwalt Athanasios Rantos des Europäischen Gerichtshofs EuGH Ende November veröffentlicht hat. Zudem macht es sprachlos, dass es fast keinerlei Reaktion auf seinen Antrag gab. Dieser Antrag repräsentiert die Sicht des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof EuGH zu einer Grundsatzfrage, die die Zulässigkeit von ca. 200 Millionen Fahrzeugen in der Europäischen Union betreffen kann und hat im Kern den Inhalt, dass alle bis circa 2017 vermarkteten Fahrzeuge in Europa aus Sicht des Generalanwalts illegal seien.

Ein Urteil des EuGHs im Rahmen eines laufenden Rechtsverfahrens ergeht typischerweise 3-6 Monate später. Typischerweise folgt das Gericht den Anträgen des Generalanwaltes. Das heißt: Es ist sehr wahrscheinlich, dass bald Millionen Autobesitzerinnen und - besitzer ein gewaltiges Problem bekommen werden.

EU-Urteil könnte Stilllegung von Millionen Fahrzeugen bewirken

Worum geht es bei dem Schlussantrag, also der 35-seitigen „opinion of advocate general Rantos“? Eine Vorlagefrage des Landgerichts Duisburg liegt dem EuGH zur Bewertung vor , in der es im Ergebnis darum geht, ob Fahrzeuge, deren Schadstoffemissionen auf dem Prüfstand nach dem Neuen Europäischen Fahrzyklus NEFZ getestet und genehmigt wurden, diese Emissionen auch im realen Fahrbetrieb einhalten müssen. Ausgangspunkt ist zwar ein Dieselfahrzeug, aber die Aussagen des Generalanwaltes sind allgemein und gelten sowohl für Diesel- wie für Benzin-Fahrzeuge .

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Nun sind die meisten Menschen beim Thema „Emissionen“ verunsichert, da sofort Schlagworte wie Dieselgate, Volkswagen, Feinstaub, Luftbelastung etc. in den Sinn kommen, was einer Erläuterung bedarf. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre waren zahlreiche technische Herausforderungen zur weiteren Emissionsverbesserung von Diesel- und Benzinmotoren zu lösen. Wichtig war im Jahr 2007 die EU Verordnung 715/2007 in Kombination mit weiteren Vorschriften, die das Emissionsverhalten der Benzin- und Dieselfahrzeuge der Jahrgänge von 2009 bis 2017 gemäß den Emissionsstufen EURO 5 bis EURO 6c reglementierte.

Wie die Emissionsgesetzgebung zustande kam

Im Gesetzgebungsverfahren konnte man sich auf Emissionsgrenzwerte einigen, die letztmalig nur in einem Fahrprofil auf einem Prüfstand, nämlich nach dem sogenannten Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ), nachzuweisen waren. Dieser NEFZ Fahrzyklus über 20 Minuten, die 11 km entsprachen, war verbindlich, bekannt und bildete nicht, was später kritisiert wurde, den realen Fahrbetrieb ab, beispielsweise dauerten die Testbeschleunigungen von 0-50 km/h über 20 Sekunden. Es waren allen fachkundigen Politikern, den Zulassungsstellen, natürlich den Entwicklungsingenieuren, den Umweltverbänden, den relevanten Behörden und auch interessierten Kunden die Informationen von Beginn an zugänglich, dass die Fahrzeuge bei einzelnen Emissionskomponenten im Realbetrieb teilweise deutlich erhöht liegen . Die Technik für eine gesamte Flotte war am Limit. Erste Demonstratoren und Einzelserien zeigten damals zugleich das Potential der Zukunft, was nach 2016 folgend umfassend umgesetzt wurde. Ab März - München plant schärferes Diesel-Verbot für Euro-5-Autos

Modus-Umschaltung: Das geschah beim Diesel-Abgasbetrug

Scharf hat zunächst die wissenschaftliche Gesellschaft für Fahrzeug- und Motorentechnik (WKM)bei alten Dieselfahrzeugen kritisiert, dass es in den USA, aber auch in Europa teilweise versteckte Datensätze gab, die im Realbetrieb auf einen anderen Betriebsmodus umschalteten, was bei Dieselmotoren zu erhöhten NO-Emissionen (Stickoxide) führte. Auch weitere technische Lösungen wurden deutlich seitens der Wissenschaft bemängelt. Ignoranz von Teilen der Industrie, die unentschuldbare Überzeugung, dass die Datensatzschummeleien nicht erkannt werden auf der einen und auf der anderen Seite das Wissen um die generelle Nichterfüllbarkeit für die gesamte europäische Fahrzeugflotte im typischen Realbetrieb, das allgemeine Verständnis und die Akzeptanz der europäischen Behörden, dass die Fahrzeuge in der Realität zugunsten niedriger CO2-Emisssiionen erhöhte NO-Emissionen aufweisen dürfen und zudem ausländische Fabrikate ein teilweise deutlich großzügigeres Emissionsverhalten aufweisen, führten zu dieser Entwicklung. Die Missstände der Fahrzeuge wurden durch umfangreiche Überarbeitungen bis ca. 2019 behoben . Bei der Bewertung der Technologie nehmen diese Fehler der Vergangenheit noch heute entscheidend Einfluss.

Probleme älterer Diesel beim Stickoxid-Ausstoß wurden ab 2019 behoben

Mit Hochdruck arbeiteten nun Forschung, Entwicklung und Politik an einer gänzlich neuen Messtechnik, einer neuen Antriebsgeneration und einer revolutionären Gesetzgebung, die im Jahr 2016 vorgestellt wurde. Diese neue EU Verordnung war fast 1000 Seiten dick und regelt für neue Typgenehmigungen seit September 2017 verbindlich, vorbildlich sowie intelligent, wie Emissionen im Realbetrieb gemessen werden können, dem sogenannten Real Driving Emissions (RDE) Test. Die neuen RDE Fahrzeuge wurden gemäß den neuen Emissionsnormen EURO 6 und EURO 6 zugelassen und zeichneten sich dadurch aus, dass die Emissionen erstmalig im Fahrzeug während der Fahrt verbindlich gemessen werden konnten.

Messtechnik huckepack: So sieht es aus, wenn ein Fahrzeug zum Real-Driving-Emissions-Test ausrückt.<span class="copyright">dpa/Volkswagen AG</span>
Messtechnik huckepack: So sieht es aus, wenn ein Fahrzeug zum Real-Driving-Emissions-Test ausrückt.dpa/Volkswagen AG

Vor 2017, also für NEFZ-Fahrzeuge, gab es im EU-Recht überhaupt keine Vorgaben oder Verfahren und auch keine anerkannten Geräte zur Messung von Emissionen von PKW im realen Fahrbetrieb . Die für die Fahrzeugmessung notwendige portable Emissionsmesstechnik PEMS, die auf der Anhängerkupplung mitgeführt wird, war um 2007 höchst unzuverlässig. Bei Kleinwagen mussten teilweise verstärkte Hinterachsfedern eingebaut werden. Gefahrenguttransporte mussten zu Beginn angemeldet werden, da Messgase mitgeführt wurden. Die Messwiederholbarkeit war unbefriedigend. Eine definierte Messprozedur lag nicht vor. Die Motoren- und Abgasnachbehandlungstechnik bedurfte einer intensiven Weiterentwicklung. Für PKW und leichte Nutzfahrzeuge wurde die PEMS-Messtechnik erst mit der Einführung der RDE-Regelungen in 2017 gesetzlich anerkannt.

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Die technischen Herausforderungen für die neuen RDE-Fahrzeuge ab 2017 waren eine komplett neue Motorengeneration, eine revolutionäre Abgasnachbehandlung, eine komplexe Abgasmesstechnik, bestehend aus Abgasdurchflussmessung und -konzentrationsmessung, eine neue Definition der Messprozedur und insbesondere die umfassende Definition der Fahrbedingungen für die Durchführung der Messung, was exemplarisch an einem Grenzfall erläutert wird. Bei einem Stillstand beim Fahrtantritt, an der Ampel oder im Stau beträgt die zurückgelegte Strecke 0 Meter, weshalb selbst bei einer minimalsten Emissionsmenge von einem einzigen Molekül NO oder HC das Emissionsergebnis unendlich viel Gramm NO pro km bei einem EURO 6 Grenzwert von 80 Milligramm/km resultiert! Unzählige Technologieverbesserungen, Messtechnikverfeinerungen, sowie umfassende Klärungen der Regulatorik waren notwendig.

Professor Thomas Koch ist einer der führenden Motoren- und Abgastechnik-Experten in Deutschland<span class="copyright">KIT</span>
Professor Thomas Koch ist einer der führenden Motoren- und Abgastechnik-Experten in DeutschlandKIT

Alle Beteiligten wussten genau, was passiert

Zudem war das Realemissionsverhalten der NEFZ-Fahrzeuge bestens bekannt - und dies soll nun nach circa 15 Jahren ein Problem darstellen? Schließlich ist dieses Verhalten im Auftrag des Umweltbundesamts kontinuierlich und umfassend analysiert worden. Das Handbuch für Emissionsfaktoren dokumentiert erhöhte Realemissionen und dient als Grundlage für Straßenprojekte, Luftreinhaltepläne und weiterführende Immissionsanalysen.

Aber all dies interessiert Generalanwalt Rantos nicht. Er fordert nun de facto, dass ein 2009er EURO 5 Fahrzeug weitestgehend die gleiche Technologie an Bord haben muss wie ein RDE Fahrzeug von 2017 oder 2020 . Fachleute wissen, dass in dem Fall, wenn die Einschätzung des Generalanwaltes von dem EuGH geteilt wird, bis zu ca. 200 Millionen Diesel- und Benzinfahrzeuge unzulässig würden. Sie erkennen die Tragweite dieser Falscheinschätzung und schlagen deshalb Alarm .

Bis zu 200 Millionen Fahrzeuge wären quasi illegal - auch Benziner

Dabei besteht auch rein tatsächlich keine Dringlichkeit und kein Handlungsbedarf . Am bekannten Stuttgarter Neckartor betrug der unmittelbare Fahrzeugbeitrag der gesamten Flotte von Alt- und Neufahrzeugen zur NO-Luftqualität im letzten Jahr nur noch ca. 15 mikrog/m, kommend von Werten um 80 mikrog/m vor 20 Jahren, bei einem Grenzwert von 40 mikrog/m. Im vierten Stock oder 15 Meter entfernt von der Straße ist dieser Straßenbeitrag zudem kaum noch wahrnehmbar. In straßennahen Gebäuden verschwindet der Straßenbeitrag weitestgehend! Gleichzeitig beträgt die Innenraumkonzentration bis über 30 mikrog/m in Gebäuden, wenn mir Gasthermen geheizt wird! Wo ist die Verhältnismäßigkeit?

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Wenn ein Generalanwalt nicht erkennt und nicht respektiert, dass jede technische Zulassungs- oder Grenzwertprüfung, egal ob die Festigkeit von Toilettenschüsseln oder der elektrische Energiebedarf von Tiefkühltruhen, ausnahmslos nur gemäß einer vorher vorliegenden Prüfvorschrift durchgeführt werden kann, so herrscht Willkür. Ohne Messverfahren kann es keinen verbindlichen Grenzwert geben, der verletzt wird.

Politischer Schachzug zur Eliminierung des privaten PKW?

Ob dies ein politischer Schachzug zur Eliminierung von PKW und leichten Nutzfahrzeugen oder ausschließlich eine juristische Fehleinschätzung ist, müssen die EU Verantwortlichen beantworten. Wenn aber Institutionen technische Grundregeln missachten, so läuft eine Gesellschaft Gefahr, dass in Zukunft auch das Abstreiten der Existenz von Perpetuum Mobiles inklusive der Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik oder die Volumenausdehnung von einfrierendem Wasser verboten werden. Jede Technologieentwicklung könnte dann de facto illegal sein. Wohin führt diese vollständige Entkoppelung von der Realität unsere Marktwirtschaft?

Der Antrag des EU-Generalanwaltes Rantos ist für eine hochentwickelte Industrieregion unwürdig, er tritt über eine Dekade intensivster Technologieentwicklung mit Füßen und es verbleibt nur noch die Hoffnung auf die Vernunft der Richter des EuGHs.

Professor Thomas Koch vom KIT Karlsruhe ist einer der bekanntesten deutschen Experten für Verbrennungsmotoren, Abgasreinigung und alternative Kraftstoffe. Er war auch in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Kraftfahrzeug- und Motorentechnik e.V. (WKM) aktiv.