„Ich will seine Tat nicht verharmlosen“ - Yilmaz (17) soll auf vier Freunde eingestochen haben - jetzt spricht sein Vater
Der 17-jährige Yilmaz soll im Oberstufenraum eines Gymnasiums in Wuppertal-Elberfeld auf vier Freunde eingestochen haben. Die Staatsanwaltschaft hat ihn mittlerweile wegen vierfachen versuchten Mordes angeklagt. FOCUS online traf den Vater des Teenagers zum Interview.
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Mehmet D., 47, ist ein höflicher Mensch. „Danke für ihre Zeit“, sagt der türkischstämmige Unternehmer aus Wuppertal beim Händeschütteln. Seine Stimme ist leise, klingt etwas zurückhaltend.
So wie sein gesamtes Auftreten. Zwölf Kilogramm hat der Geschäftsmann abgenommen. Seit jenem 22. Februar, als Yilmaz, der 17-jährige Sohn, auf seinem Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld einen großangelegten Polizeieinsatz auslöste. Er soll vier Freunde im Oberstufenraum mit einem Klappmesser angegriffen haben.
Die Schüler hatten ihn und seine Familie aus nichtigem Anlass verspottet. Yilmaz rastete aus und zog seine Waffe aus der Hosentasche. Die Opfer kamen mit leichten Verletzungen davon.
Yilmaz ist minderjährig
Yilmaz selbst hatte sich anschließend mit seiner 4,7 Zentimeter langen Klinge lebensgefährliche Stiche in der Brust zugefügt. Seit seiner Genesung sitzt der Sohn in Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft hat ihn inzwischen wegen vierfachen versuchten Mordes angeklagt. Am 21. August beginnt der Prozess hinter verschlossenen Türen. Yilmaz ist minderjährig, ein übliches Prozedere nach dem Jugendgerichtsgesetz.
Sein Vater möchte sich einiges von der Seele reden. In der Kanzlei seines Kölner Strafverteidigers Mustafa Kaplan, der seinen Sohn vertritt, will der Mehmet D. (Name geändert) sich bei den Opfern öffentlich entschuldigen. „Gut, dass die Jungs keine schlimmen Verletzungen erlitten haben, es tut mir sehr leid, was geschehen ist.“
Die Familie stammt aus der Türkei
Wohlüberlegte Sätze eines Vaters, möchte man meinen, um die Tat des Sohnes in ein günstigeres Licht zu rücken. Aber Mehmet D. wirkt nicht so, als ginge es ihm um ein taktisches Kalkül. Die Worte kommen ihm nicht so leicht über die Lippen. Er wirkt angespannt, sitzt kerzengerade am Konferenztisch, manchmal begleiten knetende Hände seine Ausführungen.
Der Duktus mitunter brüchig, wenn er über seinen „Jungen“ spricht. Natürlich sorgt er sich um den jüngeren seiner beiden Söhne. „Klar, habe ich Angst, dass man ihn wegen vierfachen versuchten Mordes verurteilt.“
Die Familie stammt aus der Türkei, „wir haben uns hier in Deutschland eine sehr erfolgreiche Existenz aufgebaut“, bekundet Mehmet D.. Vor langer Zeit habe er mal seinen Vater gefragt: „Baba, warum leben wir eigentlich hier in Deutschland?“ Daraufhin habe dieser geantwortet, dass hierzulande die Würde des Menschen unantastbar sei. Gesetz und Gerechtigkeit werde hier großgeschrieben.
Mehmet D. hält inne, bevor er fortfährt: „Allerdings wurden wir in dem Vertrauen an den Deutschen Rechtsstaat vor einigen Jahren schwer verletzt.“
FOCUS online: Sie meinen den Überfall durch eine Wuppertaler Jugendbande namens Gucci-Gang auf den Bruder ihrer Mutter?
Mehmet D : Genau. Mein Onkel wurde so schwer verletzt, dass er fortan nur noch im Rollstuhl saß, ein stets fleißiger Lebensmittelhändler wurde fast totgeprügelt. Ali Polat starb im vergangenen Jahr als gebrochener Mann. Da haben wir erleben müssen, dass die Gerechtigkeit hier nicht so gut funktionierte.
Weil die Urteile gegen die Intensivtäter sehr milde ausfielen?
Mehmet D: Stimmt. Seinerzeit haben wir daran geglaubt, dass gerade junge Menschen Fehler machen und jeder eine zweite Chance verdient. Wie sich aber herausstellte, haben diese Typen direkt nach ihrer Haftentlassung mit Raubzügen und Prügelexzessen weiter gemacht. Inzwischen wurden die Haupttäter erneut verurteilt. Damit haben sie ihre Chance verwirkt.
„Ich will die Tat von Yilmaz nicht verharmlosen“
Das beantwortet aber immer noch nicht meine Eingangsfrage, wie stehen Sie zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft, haben Sie Angst um Ihren Sohn?
Mehmet D: Selbstverständlich.
Warum?
Mehmet D: Dass Yilmaz wegen vierfachen versuchten Mordes tatsächlich schuldig gesprochen wird. Allerdings zweifle ich daran, dass die Richter entsprechend urteilen werden. Wie gesagt, die Opfer wurden Gott sei Dank nur leicht verletzt.
Da kann man doch nicht von versuchtem Mord sprechen. Das spiegelt die Tat nicht wider, deshalb ist die Anklage aus meiner Sicht falsch. Ich hege immer noch ein großes Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat und glaube, dass das Gericht zu einem anderen Urteil kommen wird.
Na, ja, es wäre ein Wunder, wenn ein Vater etwas anderes über seinen Sohn sagen würde.
Mehmet D: Nein so ist es nicht. Ich will die Tat von Yilmaz nicht verharmlosen. Aber allein schon der Umstand, dass die angegriffenen Mitschüler noch am gleichen Tag aus der Klinik entlassen wurden, widerspricht doch einem lebensgefährlichem Verletzungsbild. Kurz nach der Tat rief mich die Mutter eines der Opfer an und sagte, dass sie Christin sei.
Die Aussagen der Staatsanwaltschaft auf der Pressekonferenz kurz nach Yilmaz‘ Festnahme könne sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Ihrem Sohn wie auch den drei anderen Jugendlichen gehe es gut. Die Mutter wollte uns dies mitteilen, weil sie wusste, wie sehr wir als Familie ebenfalls unter den Geschehnissen leiden.
Wo sehen Sie denn bei der Staatsanwaltschaft einen falschen Ansatz beim Tatvorwurf ?
Mehmet D: Schauen wir uns doch mal die Beweislage an. Da ist ein kleines Messer mit einer Klinge von 4,7 Zentimetern, hätte Yilmaz wirklich mit Wucht auf seine Klassenkameraden eingestochen, hätte sich ein ganz anderes Verletzungsbild ergeben.
Laut dem rechtsmedizinischen Gutachten, dass unser Anwalt in Auftrag gegeben hat, ist dies aber höchst unwahrscheinlich. Vielmehr soll Yilmaz mit dem Messerknauf auf seine Mitschüler, die ihn zuvor verspottet hatten, eingeschlagen haben. Dies passt auch zu dem Umstand, dass die Stufenkameraden nur leicht verletzt wurden. Das ist doch kein Mordversuch.
„Mein Sohn wurde verspottet“
Haben Sie eine Erklärung dafür, wieso ihr Sohn so ausgerastet ist?
Mehmet D: Nur Vermutungen. Mein Sohn war Stufenbester, er schrieb nur Einser-Noten. Wenn er so ein schlechter Mensch ist, warum hat er dann nach der Tat 25 Lehrerbriefe mit positivem Inhalt und Genesungswünschen bekommen? 12 Lehrer haben mich auf dem Handy angerufen. Sie verstehen es nicht, wie ein Junge wie Yilmaz, sich hat zu so einer Gewalttat hinreißen lassen.
Das ist immer noch keine Erklärung für sein Handeln, immerhin soll er ja nach der Tat gesagt haben, er habe es getan.
Verteidiger Kaplan greift ein und stellt klar: „Es gibt unterschiedliche Zeugenaussagen, was und ob mein Mandant sich so geäußert hat.“
Mehmet D: Mein Sohn wurde verspottet, weil er nicht mit zum Döneressen, sondern lieber mit seiner Großmutter die Zeit verbringen wollte. Manche junge Leute reagieren direkt und aggressiv, manche aber wie mein Sohn Yilmaz, der versuchte zunächst die erfahrene Kränkung mit sich selbst auszumachen. Das gelang leider nicht. Somit ließ er seiner aufgestauten Wut freien Lauf. Die Frage ist aber, hat er zugestochen ? Da sage ich nein, hat er nicht.
Wussten Sie, dass ihr Sohn ein Messer mit sich herumträgt?
Mehmet D: Ja.
Fanden Sie das gut?
Mehmet D: Es hatte sich durch Zufall ergeben, wir haben Hunde. Um die Futtertüten zu öffnen, haben wir das bei Yilmaz gefundene Klappmesser benutzt. Das Messer ist schon älter und auch die Griffschalen fehlten. Yilmaz ist ein ängstlicher Junge und hat seelisch sehr darunter gelitten, was seinem Großonkel durch die Gucci-Jugendgang widerfahren ist, deshalb hat er meinen Vater gefragt, ob er das Messer mitnehmen darf – und zwar zum Schutz.
„Yilmaz und die ganze Familie sind total überwältigt“
Nur zum Schutz?
Mehmet D: Ja klar. Wissen Sie, unsere Familie führt ein geregeltes Leben. Ich fahre meine Kinder regelmäßig zur Schule und hole sie wieder ab. Wir sind erfolgreich als Immobilienmakler, im Handwerk etc.. Als der Ukraine-Krieg ausgebrochen war, habe ich in 120 Wohnungen Migranten untergebracht, einen Investor habe ich überredet, eine Klinik in ein Flüchtlingsheim umzuwandeln.
Es waren die ersten Wochen der Fluchtwelle aus der Ukraine, und da hat mein Sohn Yilmaz mit seinem gesparten Taschengeld von gut 1200 Euro kiloweise Lebensmittel eingekauft, um diese Flüchtlinge zu versorgen. Und so ein Junge soll ein Mörder sein? Ganz gewiss nicht.
Was erwarten Sie von dem Prozess?
Mehmet D: Yilmaz und die ganze Familie sind total überwältigt, dass wir auch aktuell so viele positive Nachrichten von Eltern und Schülern bekommen. Sie wünschen Yilmaz nur das Beste und hoffen genau wie wir, dass er bald freikommt. Es war der Wunsch von Yilmaz und uns, mit den angegriffenen Jungs und ihren Familien einen Täter-Opfer-Ausgleich zu vereinbaren.
Unser Anwalt hat das für uns in die Wege geleitet. Wir sind sehr dankbar, dass wir mit zwei Familien eine Vereinbarung abschließen konnten. Eine Familie überlegt noch. Wir hoffen, dass alle Familien mitmachen. Mehr können wir derzeit nicht tun. Wir beten zu Gott und hoffen, dass wir unseren Jungen bald wieder in unsere Arme nehmen können.