Die Kontoverse um Nikes Wunderschuh

Als Eliud Kipchoge am Samstagvormittag die Ziellinie beim Marathon in Wien überquerte, spannte er einen ganz großen Bogen.

"Ich habe gezeigt, dass es kein Limit gibt, wenn man nur will", sagte Kipchoge. "Es ist so etwas wie der erste Mensch auf dem Mond. Eine sportliche Mondlandung."

1:59,40 Stunden benötigte der 34-Jährige für die 42,195 Kilometer, damit war er der erste Mensch, der die Zwei-Stunden-Schallmauer durchbrach. Kipchoge ist nun also der Neil Armstrong der Marathon-Szene - einer, der das lange Undenkbare geschafft hat.

Luftkapseln und Carbonplatte

Doch wenn bei der Mondlandung die Rakete der Antrieb war, dann waren es bei Kipchoges Rekordlauf seine Schuhe. Der Kenianer trug bei seinem Fabellauf ein neu entwickeltes Nike-Modell namens "alphaFly", bei dem zwei runde Luftkapseln im Bereich des Vorderfußes eingebettet sind. Dadurch wird der Läufer bei jedem Schritt katapultähnlich nach vorne getragen, wie mehrere Studien belegten.

Bereits das Vorgänger-Modell "Vaporfly 4%" war mit der gleichen Technologie ausgestattet und sorgte seit der Markteinführung 2017 für kontroverse Diskussionen. Die Prozentangaben hinter dem Modell sollten den Vorteil gegenüber anderen Schuhen angeben - was offenbar nicht aus der Luft gegriffen ist.

Laut einer Analyse der New York Times verbessert der Vaporfly die Laufökonomie eines Marathonläufers, so dass er im Schnitt deutlich schneller ins Ziel kommt als mit anderen Schuhen. Im Nike-Schuh habe man eine Wahrscheinlichkeit von 63 Prozent, seine Marathonbestzeit zu verbessern.

Zuammengefasst: Kipchoge verbrauchte bei seinem Rekordlauf weniger Energie als beim gleichen Tempo mit anderen Schuhen - und er konnte länger sein Tempo halten.

"Laufen muss der Athlet ja trotzdem selber"

"Ich habe auch gehört, dass der Vorteil bei vier Prozent liegen soll", sagt Sebastian Weiß, Bundestrainer für den Mittel- und Langstreckenbereich der Frauen, bei SPORT1. Zudem gebe "die Carbon-Platte, die im Schuh integriert ist, dem Läufer das Gefühl, dass er die ganze Zeit bergab läuft."

Ob das alles fair ist? "Über Chancengleichheit kann man grundsätzlich und auch im Sport immer streiten", sagt Weiß, der jedoch nicht von einem unerlaubten Vorteil sprechen will. "Wer den besseren Schuh hat, kann ihn auch tragen. Laufen muss der Athlet ja trotzdem noch selber."

Allerdings sind Athleten auch immer an Sponsorenverträge gebunden und können nicht einfach ihr Schuhwerk wechseln. Der von Adidas gesponserte Äthiopier Herpassa Negasa trug beim Dubai-Marathon im Januar einen Vaporfly und malte ihn kurzerhand in die Adidas-Farben um. Nachdem er Zweiter wurde und seine Bestzeit klar unterbot, flog er jedoch auf und bekam von seinem Sponsor mächtig Ärger.

Weil vor allem die Carbon-Platte als unfairer Vorteil gewertet wurde, forderten einige Sportler und Sportwissenschaftler vor zwei Jahren ein Verbot der Schuhe bei internationalen Wettkämpfen. Dazu kam es allerdings nicht, sodass der Sportartikelhersteller die Debatte letztlich für Werbezwecke nutzen konnte - schließlich lassen sich Laufschuhe, die den Ruf haben, unerlaubt schnell zu sein, wunderbar verkaufen.

"Um ehrlich zu sein: Das ist schon schmeichelhaft, wenn Leute glauben, dass wir unseren Job so gut machen, dass wir damit eine Linie überschreiten", sagte Nike-Projektleiter Bret Schoolmeester 2018 bei Wired.

Chinesischer Biomechaniker "ein Rockstar"

Weiß verweist auf den technologischen Fortschritt, der letztlich bei allen Sportartikelherstellern als Antrieb diene. "An den Schuhen wird immer gefeilt, andere Hersteller versuchen auch, ihre Schuhe zu verbessern. Man probiert natürlich, dass die Energie zurückgegeben wird, dass der Schuh gleichzeitig eine gute Dämpfung hat und ihn leicht zu machen, damit man möglichst schnell darin laufen kann." 185 Gramm wiegt der Schuh - trotz aller Technologie.

Als Kopf der neuen Schuh-Entwicklung bei Nike gilt der chinesische Biomechaniker Geng Luo - laut Schoolmeester ein "totaler Rockstar". Luo und sein Team erschufen die neue Technologie im Nike-Headquarter bei Beaverton im US-Bundesstaat Oregon. Das dort integrierte Nike Sports Research Lab (NSRL) gilt als riesiges Versuchslabor, das streng gesichert ist.

In Beaverton, wo auch das umstrittene und kürzlich geschlossene Nike Oregon Project angesiedelt war, tüftelten zahlreiche Forscher an jedem noch so kleinen Detail. "Es ist ein System, bei dem jede Komponente ihren Teil beiträgt", beschrieb Schoolmeester das Vorgängermodell: "Vor allem der Schaum leistet seine Arbeit."

Weiß vergleicht Schuh mit Rodel-Schlitten

Grundsätzlich ließe sich zwar darüber streiten, ob dadurch ein unerlaubter Vorteil geschaffen würde, sagt Weiß: "Aber beim Stabhochsprung wird ja beispielsweise auch am perfekten Stab gearbeitet oder beim Rennrodeln am perfekten Schlitten. Die Technik geht weiter."

Noch komplett ohne technische Hilfen war Abebe Bikila unterwegs, als er 1960 in Rom in 2:15,16 Stunden Olympiasieger wurde - barfuß. Vier Jahre später in Tokio trug er Laufschuhe und bewältigte die Marathon-Strecke über drei Minuten schneller.