"Ich wusste, dass sie alles mit uns machen konnten": Olehs Flucht vor der russischen Besatzung
"Wir haben nicht geglaubt, dass etwas so Schreckliches passieren könnte. Wir haben zwar ab und zu Explosionen gehört, aber nie so nah", erinnert sich der 17-jährige Oleh an seine Kindheit in Hnutove, einem Dorf etwa 20 Kilometer östlich von Mariupol an der Grenze zur sogenannten "Donezker Volksrepublik". Russlands Krieg gegen die Ukraine begann bereits 2014, kurz nach der Revolution der Würde. Kurz darauf besetzte und annektierte Russland die Krim und unterstützte prorussische Separatisten, die das ukrainische Militär im Donbass bekämpften.
Der Krieg hat Olehs Kindheit überschattet
Der preisgekrönte Dokumentarfilm "The Distant Barking of Dogs" aus dem Jahr 2017 zeigt den Krieg Russlands gegen die Ukraine aus der Sicht des damals zehnjährigen Oleh. Seine Kindheit war vom Krieg überschattet. Bei Kriegsbeginn war Oleh erst sieben Jahre alt. Er erinnert sich, dass er gelegentlich in den Keller musste, um sich vor Explosionen und Schüssen zu verstecken. "Ich war noch zu jung, um die Situation zu verstehen", sagt er. Trotz des Krieges hatte Oleh eine relativ normale Kindheit in Hnutove, spielte Volleyball und Fußball, verbrachte Zeit mit seinen beiden Cousins und ging wie jedes andere Kind zur Schule.
Schutzsuche in Mariupol
Als Russland am 24. Februar 2022 mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine begann, konnte Oleh nicht ahnen, was auf ihn zukommen würde. Er dachte, es sei ein Tag wie jeder andere. Als er den Beschuss aus der Nähe hörte, bekam er Angst. Trotz seiner Angst versuchte er, seine jüngeren Cousins zu beruhigen. "Sie verstanden noch weniger, was los war", erinnert er sich.
"Wir versuchten, zusammenzuhalten", erklärt er und erzählt, dass sie schnell merkten, dass der Beschuss näher und lauter war als üblich. "Wir haben langsam den Ernst der Lage verstanden, dass wir jeden Moment sterben konnten." Er betont, wie wichtig es für seine Familie war, zusammenzubleiben: "Wir könnten nicht ohne einander leben und begannen, einander mehr zu schätzen."
Nach dem Angriff der Russen auf Hnutove beschloss die Familie, seine Tante, seine Großmutter, sein Vater und zwei Cousins, nach Mariupol zu fliehen. Sie dachten, dort wären sie sicherer vor russischen Angriffen.
Mariupol war eines der ersten Ziele der Russen. Die Hafenstadt am Asowschen Meer war als Zentrum des Getreidehandels, der Metallurgie und des Schwermaschinenbaus bekannt, darunter die Illich-Stahl- und Eisenwerke und Asowstal. Die Hafenstadt wurde zudem auch die "Brücke zur Krim" genannt.
In den ersten Tagen überzog Russland die Stadt mit Flächenbombardement. Im März verloren die Bewohner den Zugang zu Strom, fließendem Wasser und zur Gasversorgung. Kurz darauf begann Russland mit ihrer Blockade und die Stadt mit ihren rund 400.000 Einwohnern war von der Versorgung mit Lebensmitteln und lebenswichtigen Gütern abgeschnitten.
Die Menschen waren unter anderem gezwungen, Schnee zu schmelzen, um Trinkwasser zu gewinnen und mussten ihre halbwegs sicheren Keller verlassen, um draußen auf offener Flamme zu kochen.
Oleh versteckt sich zwei Monate lang im Keller
Als Oleh und seine Familie in der Stadt ankamen, wurde ihnen schnell klar, dass sie in der Falle saßen. Mariupol zu verlassen war unmöglich. Es fuhren keine Züge und die Straßen waren zu gefährlich. Man konnte entweder durch Beschuss getötet oder von den russischen Streitkräften erschossen werden.
Daher war die Familie gezwungen, sich zwei Monate lang im Keller zu verstecken, völlig abgeschnitten vom Rest der Welt. "Wenn wir keine lauten Explosionen hörten, verließen wir den Keller, um frische Luft zu schnappen. Außer dem ständigen Beschuss wusste niemand, was in Mariupol und im Rest des Landes vor sich ging. Wir hatten schreckliche Angst vor dem Geräusch der Flugzeuge, die Bomben auf uns abwarfen. Sie flogen oft nachts. Wir hatten Angst, einzuschlafen", fügt Oleh hinzu.
Jedes Mal, wenn sie riskierten, den halbwegs sicheren Keller zu verlassen, um das Nötigste zu besorgen, wussten sie, dass jeder Gang nach draußen ihr letzter sein könnte. "Wir hatten Glück, denn der Besitzer des Second-Hand-Ladens öffnete sein Geschäft in der Nähe und erlaubte uns, Kleidung zu nehmen, um uns warmzuhalten. Dort bekamen wir einige Dinge wie Decken, Pullover, Mützen und Handschuhe", erklärt Oleh.
Was Wasser und Lebensmittel anbelangt, so erinnert er sich daran, dass sie gezwungen waren, sogar Wasser aus der Heizungsanlage zu trinken. "Manchmal mussten wir auch zu einem Brunnen in der Nähe des Kellers gehen, aber der wurde oft beschossen und es lagen Leichen auf dem Boden", erinnert er sich.
Oleh und seine Familie dachten ständig an ihr Zuhause in Hnotuve. "Wir haben fest damit gerechnet, bald wieder nach Hause zu fahren. Jeden Abend schliefen wir mit der Hoffnung ein", erzählt er. Nach zwei Monaten in Mariupol, als sich die Lage in der belagerten Stadt einigermaßen "stabilisiert" hatte, kehrte die Familie nach Hnutove zurück.
Fremde im eigenen Zuhause
Als Oleh zu Hause ankam, fand er einen Ort vor, der bis zur Unkenntlichkeit verändert war. Das einst vertraute Dorf, ein Ort der Geborgenheit, fühlte sich nun fremd und beunruhigend an. Sein Haus, von dem er gehofft hatte, dass es ihm ein Gefühl der Sicherheit vermitteln würde, erwies sich als ein Ort der Zerstörung.
Russische Soldaten haben das Haus besetzt und es verwüstet zurückgelassen. "Als wir in unser Haus zurückkehrten, fühlten wir uns nicht wohl. Wir spürten die Anwesenheit anderer Menschen. Es war schwierig für uns, in unseren eigenen Betten einzuschlafen", erinnert sich der 17-Jährige.
Oleh zufolge schien das Dorf durch die russische Invasion wie gelähmt zu sein: Die Infrastruktur lag in Trümmern, es gab kein Wasser, keine Verkehrsmittel und keine Verbindung zu den umliegenden Städten.
Seit Februar 2022 ist Hnutove unter vorübergehender russischer Besatzung.
Das Filtrationslager
Da die Familie nicht unter russischer Besatzung leben wollte und sich in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher fühlte, beschloss sie, Hnutove zu verlassen. Dazu mussten sie ein russisches Filtrationslager passieren. Ukrainer, die die von Russland besetzten Gebiete verlassen wollen, müssen sich auf eine gefährliche Reise begeben, die aus Kontrollpunkten und Filtrationslagern besteht. Die Menschen müssen oft über Russland und Drittländer wie Georgien oder Belarus ausreisen, da die direkten Routen aus den besetzten Gebieten gesperrt oder aufgrund der starken Militärpräsenz und der Kampfzonen zu gefährlich sind.
Bei diesen Lagern, auch Konzentrationslager genannt, handelt es sich um Einrichtungen, die von den russischen Streitkräften genutzt werden, um Ukrainer in den besetzten Gebieten zu verhören und zu inhaftieren.
Ein Nachbar fuhr die Familie in das Lager in einem nahe gelegenen Dorf. Oleh weiß nicht mehr, wo genau das Filtrationslager war, aber er erinnert sich an ein Feld mit Zelten, auf dem die Menschen verhört wurden. Nach Recherchen der Medieninitiative für Menschenrechte gab es zwei Filtrationslager in der Nähe von Olehs Heimatdorf: Nowoasowsk und Bezimenne. Beide stimmen mit Olehs Beschreibung von Zelten auf Feldern überein. Bezimenne scheint mit nur 45-Autominuten entfernt jedoch das nahegelegende Filtrationslager gewesen zu sein.
Nach Angaben von Aksana Filipishyna, Analystin bei der ukrainischen Helsinki Human Rights Union (UHHRU), waren im Filtrationslager in Bezimenne etwa 5.000 ukrainische Flüchtlinge interniert.
Nach Angaben von Filipishyna lebten die Flüchtlinge in überfüllten Schulgebäuden oder Zelten, waren strengen Kontrollen ausgesetzt und durften das Lager nicht verlassen. Laut der Analystin sprachen die Menschen von schlechter Ernährung und mangelnder medizinischer Versorgung. "Einige Personen erwähnten, dass es aufgrund der mangelnden medizinischen Versorgung zu Todesfällen gekommen sei", erklärt sie und fügt hinzu, dass die Menschen das Lager nicht freiwillig verlassen durften, solange sie die russische "Filtration" nicht "bestanden" hatten.
Laut Filipishyna waren die Inhaftierten häufig schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter Folter und außergerichtlichen Tötungen. Nach dem Filtrationsprozess werden viele Ukrainer zwangsweise nach Russland abgeschoben. Die russische Regierung leugnet diese Abschiebungen und bezeichnet sie als "Evakuierungen".
Warum hat Russland Filtrationslager für Ukrainer erstellt?
Laut Filipishyna wurden diese Lager aus zwei Gründen genutzt. "Der erste Grund war, Personen zu identifizieren und zu neutralisieren, die als illoyal gegenüber dem Putin-Regime angesehen wurden." Dazu gehörten proukrainische Menschen, aktuelle oder ehemalige Militärangehörige, Aktivisten, Regierungsbeamte und andere, die als Bedrohung für die russische Besatzung angesehen wurden.
"Wenn solche Personen identifiziert wurden, wurden sie oft von ihren Familien getrennt, inhaftiert und physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Viele dieser Menschen landeten in russischen Gefängnissen oder Lagern. Ihr Verbleib blieb manchmal monatelang unbekannt", erklärt sie und fügt hinzu, dass einige derjenigen, die die Filtration "nicht bestanden", in die Kolonien, wie beispielsweise in Oleniwka, geschickt wurden.
Der zweite Zweck der Camps bestand darin, den Strom ukrainischer Flüchtlinge nach Russland zu steuern, so Filipishyna. Russland hatte Schwierigkeiten, die Verteilung der Menschen zu bewältigen, daher wurden die Lager zur "Kontrolle der Umsiedlung" genutzt. Die Flüchtlinge mussten Fingerabdrücke abgeben und sich Leibesvisitationen und Befragungen unterziehen und wurden dann in Gruppen in verschiedene russische Städte geschickt, bis weitere Vorkehrungen für ihre Unterbringung getroffen werden konnten.
"Wir haben zum ersten Mal nach dem Fall von Mariupol von Orten gehört, an denen Zivilisten für eine Art Inspektion und Verhöre konzentriert werden", erklärt die UHHRU-Analystin. "Um ihr Leben zu retten, versuchten die Menschen, den Ort unter massivem Beschuss durch die russischen Streitkräfte auf jede erdenkliche Weise zu verlassen. Der ständige Raketenbeschuss und die Bombardierung der zivilen Infrastruktur führten dazu, dass die Menschen sich nirgendwo mehr verstecken konnten. Dadurch waren die Menschen gezwungen, die Stadt zu verlassen. Einigen gelang es, in den von der Ukraine kontrollierten Teil der Region zu gelangen. Andere waren wiederum gezwungen, die russische Grenze zu überqueren. Beim Überqueren der ukrainisch-russischen Grenze im Februar und März 2022 sahen sich die Menschen zunächst mit Filtrationsmaßnahmen und dann mit der Passage durch die sogenannten Filtrationslager konfrontiert", so Filipishyna weiter.
Insgesamt gab es mindestens 21 russische Filtrationslager in der Region Donezk, wie Forscher der Universität Yale herausgefunden haben.
"Ich wusste, dass sie alles mit uns machen konnten"
Im Filtrationslager wusste Oleh, dass er der Gnade der russischen Soldaten ausgeliefert war. "Ich wusste, dass sie alles mit uns machen können", erinnert er sich. "Sie sagten mir, ich solle keine Angst haben. Wenn sie mich töten wollten, hätten sie es bereits getan", fügte der 17-Jährige hinzu.
Während er auf seinen Vater wartete, der immer noch verhört wurde, erinnert sich Oleh an eine junge Frau, die nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet war. Sie wurde von russischen Soldaten aus einem Zelt gezerrt. "Sie stülpten ihr etwas über den Kopf und zerrten sie in ein Auto", erinnert er sich. Bis heute weiß er nicht, was mit ihr passiert ist, ob sie noch lebt und was die Soldaten mit ihr gemacht haben. "Es war schrecklich, das mit anzusehen. Sie benahmen sich wie Tiere", fügt er hinzu und sagt, er habe ihnen angesehen, wie sehr sie es genossen haben, die Menschen im Lager zu demütigen.
Während er auf seinen Vater wartete, hörte er ständig, wie Menschen geschlagen, gefoltert und beschimpft wurden. Oleh sagt, sein Vater habe nicht gewusst, was mit ihm passiert war: "Er dachte, ich sei einer der Menschen, die schrien", sagt Oleh. Die russischen Soldaten, die seinen Vater verhörten, sagten ihm, sein Sohn sei gefangen genommen worden und er würde ihn nie wieder sehen.
Oleh erinnert sich, wie sein Vater schrie: "Nein, nein, nein, nehmt mich stattdessen. Nehmt nicht meinen Sohn, nehmt mich!" Die Soldaten lachten und spielten wissentlich Psychospielchen mit Olehs Vater. "Sie waren böse", sagt Oleh und fügt hinzu, dass sie seinen Vater zum Glück gehen ließen.
Ukrainische Kinder wurden oft in Camps auf der vorübergehend besetzten Krim und in verschiedenen russischen Regionen wie Moskau und Rostow geschickt, erklärt Filipishyna vom UHHRU. "Es wurden über 40 Orte identifiziert, an die ukrainische Kinder verschleppt wurden", sagt sie. Die ukrainischen Behörden schätzen, dass 19.500 Kinder von Russland deportiert wurden. Die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich viel höher.
Die UN erklärten die Deportation ukrainischer Kinder zu einem Kriegsverbrechen und der Internationale Strafgerichtshof erließ Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Beauftragte des Präsidenten für die Rechte der Kinder, Maria Lwowa-Belowa. Nach dem Völkerrecht, einschließlich der Völkermordkonvention von 1948, können diese Deportationen einen Völkermord darstellen.
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Die Reise in die Sicherheit
Nachdem Oleh und seine Familie das Filtrationslager nach mehreren Stunden durchlaufen hatten, mussten sie durch Russland reisen, um in die Sicherheit der baltischen Staaten zu gelangen. Er erinnert sich an die Reise und daran, wie anstrengend der Grenzübertritt nach Lettland war, höchstwahrscheinlich am Kontrollpunkt Ludonka. Zu dieser Zeit war der Grenzübergang einer der letzten offenen Landgrenzübergänge zwischen Russland und der EU.
Nachdem sie die Grenze passiert hatten, hielten sie nicht an, bis sie Warschau erreichten, wo sie drei Tage lang blieben. Oleh erinnert sich, dass sie von den Freiwilligen gut behandelt wurden: "Sie gaben uns sogar Obst und Wasser." Nach ihrem kurzen Aufenthalt in Warschau setzten sie ihre Reise nach Kiew fort, wo sie heute noch wohnen.
"Ich vermisse den Fluss in meiner Heimatstadt, an dem ich als Kind jeden Sommer verbracht habe"
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat tiefe psychologische Narben bei Kindern hinterlassen. Sowohl bei denen, die den Konflikt seit 2014 erlebt haben, als auch bei denen, die von der umfassenden Invasion betroffen sind. Laut Oksana Pysarieva, Psychologin bei der Stiftung Voices of Children, ist das Trauma allgegenwärtig und berührt auch diejenigen, die weit von der Front entfernt sind. "Kinder im ganzen Land spüren die Auswirkungen des Krieges durch die Trennung von geliebten Menschen, die Angst vor dem Tod und den Verlust der Sicherheit. Während jüngere Kinder mit unmittelbaren Reaktionen und Erinnerungen zu kämpfen haben, zeigen Teenager Anzeichen von Angst, Depression und Desorientierung", erklärt sie.
Die langfristigen Auswirkungen sind bislang jedoch ungewiss. Die Kinder werden jedoch ihr ganzes Leben lang mit den harten Realitäten des Krieges konfrontiert sein und ihre Entscheidungen, Werte und ihr Sicherheitsempfinden prägen, so Pysarieva.
Oleh träumt immer noch davon, eines Tages nach Hnutove zurückzukehren, um sich richtig zu verabschieden.
"Ich denke oft an meine Heimat und den Fluss, an dem ich als Kind jeden Sommer verbracht habe. Mein Wunsch ist es, eines Tages zurückzukehren, um mich richtig zu verabschieden, denn wir mussten so plötzlich fliehen. Wir haben nicht einmal alle Fotos aus dem Familienalbum mitgenommen", erklärt er und fügt hinzu, dass er auch die Nähmaschine seiner Großmutter mitnehmen möchte, die "sie so sehr liebt und vermisst".