Yahoo Deutschlands Person des Jahres: Jérôme Boateng

Sportlich konnte Boateng 2018 nur selten glänzen – menschlich dafür umso mehr (Bild: Reuters)
Sportlich konnte Boateng 2018 nur selten glänzen – menschlich dafür umso mehr (Bild: Reuters)

Vorbild auf dem Platz und auf dem größeren drumherum auch: Fußballer Jérôme Boateng fand in diesem Jahr die richtigen Worte fürs Land.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Sportlich war 2018 für Jérôme Boateng ein “Seuchenjahr”, wie das Portal “fussballeck.com” bilanzierte. Verletzungen, ein langsamerer Sprint, Pech – und eine Häufung verhängnisvoller Zweikampfniederlagen, über die bei einem Stürmer kaum gelästert würde, bei einem Verteidiger als letztem Mann vorm Tor aber eben schon. Dann die verkorkste WM.

Kritik hagelte auf ihn ein. Nun gibt es einige Topspieler, welche nicht mehr zu den jüngsten zählen und deren Leistungen ähnlich nachlassen. Die Häme aber über einen Thomas Müller oder einen Mats Hummels füllt längst keinen Nikolaussack so drall wie die negativen Einschätzungen zu Boateng. Vielleicht hat er etwas zu sehr “genervt”, in diesem Jahr.

Und vielleicht ist es auch eine Frage der Farbe, oder wie Boateng es in einem Interview ausdrückte: Ihm sei aufgefallen, dass vor allem bei türkischstämmigen Spielern “Fans und Medien viel kritischer als bei anderen Spielern kommentieren”.

Im Gegensatz zu einigen Kollegen findet Boateng die richtigen Worte (Bild: Reuters)
Im Gegensatz zu einigen Kollegen findet Boateng die richtigen Worte (Bild: Reuters)

Klar, wenn sich einer aus der größten Gruppe der Einwandererfamilien erdreistet, seinen ihm zugewiesenen Platz irgendwo da unten zu verlassen und aufzusteigen, dann kann er den allgemeinen Argwohn nur reduzieren, indem er das Kasperle mimt und auf gut Wetter macht, auch auf stürmischster See. Mesut Özil kann davon ein Lied singen. Und Boateng weiß, wovon er öffentlich spricht. Daher ist er für uns die Person des Jahres 2018.

“Ich spüre, dass viele Leute ihre Mitmenschen wieder mehr in Schubladen stecken: Eine für die Deutschen, eine für die Migranten”, sagte Boateng in dem nach ihm benannten Magazin “Boa”. “Und die Deutschen, deren Eltern vielleicht ausländische Wurzeln haben, und die nicht weiß sind, sich aber völlig deutsch fühlen, weil sie hier aufgewachsen sind, werden wieder skeptischer angeschaut.”

Die Marotte mit den Schubladen ist weithin bekannt. Schon vor etlichen Jahrzehnten schrieb Bert Brecht auf: “Was tun Sie”, wurde Herr K. gefragt, “wenn Sie einen Menschen lieben?” “lch mache einen Entwurf von ihm”, sagte Herr K., “und sorge, dass er ihm ähnlich wird.” “Wer? Der Entwurf?” “Nein”, sagte Herr K., “der Mensch”. Was also, wenn es sich um einen Menschen handelt, den man nicht lieben will? Solch ein Entwurf entsteht nur mit Hilfe eines Lineals.

Die Wahrheit liegt neben dem Platz

Boateng durchbricht diese Enge. Er nimmt an die Hand und lässt nachvollziehen, wie Rassismus in Kinderaugen aussieht. “Meine Eltern sprachen lange nicht mit mir über meine Hautfarbe”, sagt er in “Boa”. “Sie war gar kein Thema. Dann ruft dir plötzlich jemand ‘Hey, mein kleiner Nigger’ zu. Meine Eltern haben mir da erklärt, dass manche Menschen Probleme mit meiner Hautfarbe haben. Ich konnte das nicht glauben. Für ein Kind ergibt das keinen Sinn.”

In seiner Jugend habe er unter Diskriminierung gelitten: “Ich erinnere mich noch an ein Pokalspiel beim Köpenicker SC. Da ist der Vater eines Gegenspielers auf unsere Seite gekommen, hat mich die ganze Zeit beleidigt. Irgendwann hab ich angefangen zu heulen.”

Wer einmal am Rand eines Fußballfeldes stand, auf dem kleine Kerle kicken, bleibt bei diesen Schilderungen sprachlos.

Boateng zieht einen Vorhang weg, den viele Deutsche haben. Er gewährt Einblick in die Schattenwelten des Landes. Es bleibt nur zu hoffen, dass seine Kollegen Manuel Neuer und Thomas Müller dieses Interview auswendig gelernt haben; schließlich hatten sie sich nicht entblödet zu behaupten, “von Rassismus im Sport und in der Nationalmannschaft kann keine Rede sein” (Thomas Müller) oder der DFB müsse nun “auch wieder die Spieler da haben, die wirklich stolz sind, für die Nationalmannschaft zu spielen, und alles dafür zu geben, für das eigene Land zu spielen” (Manuel Neuer).

Boateng hielt als einer von wenigen zu Özil – das ehrt ihn (Bild: Reuters)
Boateng hielt als einer von wenigen zu Özil – das ehrt ihn (Bild: Reuters)

Der eine Torpfosten redet also Rassismus nonchalant weg als wäre er der neue Houdini, und der andere Torpfosten deutet an, dass in der deutschen Nationalmannschaft einige Charaktere gewesen wären, die nicht genügend Stolz besessen hätten. Überflüssig zu schreiben, dass die beiden sich im Zusammenhang des Rücktritts von Mesut Özil äußerten – und seinen Rassismusvorwürfen gegenüber dem DFB. Wohlgemerkt nicht gegenüber der Nationalmannschaft, aber so weit wollte Müller dann wohl nicht denken.

Was zu befürchten ist

Eigentlich hätten eher die beiden dafür aus der Nationalmannschaft zurücktreten müssen; belassen wir es aber dabei, sie nicht unbedingt in den Kandidatenkreis für die Person des Jahres 2018 einzubeziehen.

Und wenn die beiden sich zusammennehmen und hineinschauen, wozu Boateng sie mit seinem weggezogenen Vorhang einlädt, dann lesen sie über seine Töchter: “Sie sind sieben Jahre alt. Bald werde ich mit ihnen über das Thema sprechen müssen.” Und weiter: Dass es Orte in Deutschland gebe, zu denen er seine Töchter nicht fahren lassen würde. Boateng spricht in dem Zusammenhang von Marzahn oder Weißensee – “mit anderer Hautfarbe hast du da immer etwas zu befürchten”.

Und natürlich hat er damit recht. Überflüssig festzustellen, dass er zu den wenigen Nationalspielern gehörte, die Özil in seiner sicherlich schmerzvollen Phase rund um seinen Rücktritt ein wenig Wärme gaben.

“Wo waren die Mitspieler, die sich bei Mesut bedankt haben?”, fragte er in einem Interview mit der “Süddeutschen Zeitung”. “Anscheinend haben viele sich nicht zu äußern getraut, weil sie gedacht haben, dass das bei den deutschen Fans nicht so gut ankommt.” Özil sei ein toller Spieler, der den deutschen Fußball verändert habe, sagte Boateng. “Eine Nummer 10 mit Migrationshintergrund! Dem muss man Danke sagen.”

Dafür sagen wir an dieser Stelle Danke.