ZDF-Doku über "Nesthocker": "Das bisschen Gezeter von der Mutter halte ich locker aus"

Aus der Ferienwohnung für Wanderer wird nichts: Felix denkt nicht daran, sein Kinderzimmer zu räumen. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)
Aus der Ferienwohnung für Wanderer wird nichts: Felix denkt nicht daran, sein Kinderzimmer zu räumen. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)

Felix, 23, genießt es sehr im "Hotel Mama". Er denkt gar nicht daran, sich "zu verschlechtern", wie er meint. Eine neue ZDF-Reportage besuchte drei Ü-20-"Nesthocker" und kam zu dem Schluss: Die Gründe, nicht "flügge" zu werden, können sehr verschieden sein.

Wenn statt der selbst erwärmten Dosenravioli dauerhaft nur Muttis Küche punktet oder es Papas guten Ratschlägen gelingt, den eigenen Entdeckergeist auszubremsen, scheint klar: Hier kann sich ein "Nesthocker" nicht zum Abflug entschließen. Die Zahlen lesen sich erstaunlich: 28 Prozent der 25-Jährigen lebten im Jahr 2020 noch im elterlichen Haushalt - Tendenz steigend, weiß das Bundesamt für Statistik!

Doch der verzögerte Auszug kann auch ganz anders motiviert sein als durch fehlende Abnabelung oder Bequemlichkeit. Filmemacherin Anne Kauth hat drei Erwachsene, die noch bei den Eltern wohnen, mit der Kamera begleitet. Ihre erhellende Reportage "Nesthocker" war am Dienstagabend in der Reihe "37°" im ZDF zu sehen.

Trotz aller Streitereien: Ve hat ihre Eltern fest im Griff. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)
Trotz aller Streitereien: Ve hat ihre Eltern fest im Griff. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)

Gescheitert am Kulturschock in Berlin

Die Gründe der drei so genannten "Nesthocker" dafür, sich nicht aus ihren Kinderstuben verabschieden zu wollen, sind sehr verschieden. Die 29-jährige Ve etwa war schon von zu Hause ausgezogen, scheiterte jedoch am Kulturschock Landleben versus Berlin: "Der Trubel, die ganzen Straßenbahnen, alles ist so laut." Nun wohnt sie wieder in ihrem inzwischen maroden Elternhaus und träumt davon, das Dachgeschoss auszubauen, um darin später mal mit einem Partner zu leben.

Auch die ständigen Streitereien mit Mutter und Vater, die sich nicht nur nach ein wenig Zweisamkeit, sondern auch nach finanzieller Unterstützung sehnen, können Ve nicht motivieren, es noch einmal mit einer eigenen Bleibe zu probieren. Sie gehört damit zu den sechs Prozent der Frauen ihres Alters, die noch nicht ausgezogen sind, im Vergleich zu den bemerkenswerten 13 Prozent der jungen Männer derselben Altersgruppe.

Mama hat das Nachsehen, wenn Ve es sich auf dem Sofa gemütlich macht. Dabei könnte sie dringend finanzielle Unterstützung gebrauchen. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)
Mama hat das Nachsehen, wenn Ve es sich auf dem Sofa gemütlich macht. Dabei könnte sie dringend finanzielle Unterstützung gebrauchen. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)

Auf dem Land leben deutlich mehr "Nesthocker"

Anders als bei Ve ist es bei dem zweifachen Vater Stefan, der jahrelangen Drogenmissbrauch erlebt hat und sich von seinen Eltern stark bevormundet fühlt. Der 35-Jährige sehnt sich nach Unabhängigkeit und sucht Arbeit, traut sich einen Auszug jedoch noch nicht zu. Schwierig ist für ihn vor allem das ständige Misstrauen des Vaters, der überall Anzeichen für einen Rückfall ins Drogenmilieu wittert.

Felix wiederum entspricht dem Klischee des "Berufssohns" und hat nicht die geringste Lust, seine Bequemlichkeit im "Hotel Mama" aufzugeben: "Ich wäre ja blöd, wenn ich ausziehen würde. Da hätte ich ja gar keinen Platz. Und teuer wäre es auch noch, und das bisschen Gezeter von der Mutter, das halte ich locker aus", sagt er.

Lieber bleibt er bei der Großfamilie auf dem heimischen Bauernhof in Franken und hilft gerade so viel bei der Arbeit, wie er nicht vermeiden kann. Und auch nur dann, wenn er die Nacht zuvor nicht durchgefeiert hat. Damit ist Felix nicht alleine: Im ländlichen Raum leben deutlich mehr "Nesthocker" als in den Städten. Auch Felix' Freundin Mona aus dem Nachbardorf wohnt mit über 20 noch bei ihren Eltern.

Stefan hat selbst zwei Kinder, doch bei seinen Eltern auszuziehen traut er sich nicht zu. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)
Stefan hat selbst zwei Kinder, doch bei seinen Eltern auszuziehen traut er sich nicht zu. (Bild: ZDF/Ralf Gemmecke)

"Wenn ich ausziehen würde, würde ich mich verschlechtern"

Dabei sähen Felix' Eltern den Filius durchaus lieber flügge werden - eigentlich! "Aber man will ja niemanden rausschmeißen", rechtfertigt sich Mama Ramona vor der Kamera von Filmemacherin Anne Kauth. So bestückt sie "oft" den Kühlschrank der Kinder, die in einer ausgebauten Scheune leben, und verschiebt den Plan, die Räume an Feriengäste zu vermieten. "Vielleicht klappt's in zehn Jahren", resigniert sie lachend.

"Ich versteh mich mit meiner Familie gut. Man hat auch seine Freiheiten. Warum soll ich das hergeben?", erklärt Felix seine Antriebslosigkeit, etwas an der Wohnsituation zu ändern. "Klar wär's schon cool, mal irgendwo anders hinzuziehen, mal was Neues aufzubauen und so, aber ... Pfff. Mit dem Umsetzen tu ich mich a weng schwer." Als Feinmechaniker pendelt er lieber täglich eine halbe Stunde pro Fahrt in die Stadt, als dort zu leben. "Wenn ich ausziehen würde, würde ich mich meiner Meinung nach verschlechtern." Auch finanziell, wie er betont.

An dieser Rechnung ändert sich auch nichts Entscheidendes, da neuerdings 300 bis 400 Euro Wohngeld im Gespräch sind. Wasser und Strom verbraucht er schließlich, mehr fände Felix aber übertrieben: "Als Gegenleistung mähe ich auch den Rasen, deshalb kann man da einen geringeren Preis ansetzen."

"Nesthocker" - verzweifelt gesucht

Im Begleitschreiben zu ihrem Film berichtet Anne Kauth, wie schwierig die Suche nach geeigneten Protagonisten war. "Jeder hat seine eigene Geschichte mit der Abnabelung vom Elternhaus, mit dem Ausziehen, dem ersten Alleinwohnen", schreibt die Autorin. "Doch als ich für diesen Film nach Leuten gesucht habe, die mir davon berichten, warum sie noch mit über 20 zu Hause leben, stellte sich heraus: Es ist verdammt schwer, jemanden zu finden, der zugibt, dass er freiwillig noch daheim wohnt."

Erschwerend sei gewesen, dass die sogenannten "Nesthocker" nicht organisiert und somit schwer auffindbar seien. "Doch nach Monaten des Anzeigenschaltens kamen dann doch die ersten Rückmeldungen und die ersten Gespräche gingen los." Anne Kauth: "Jedes Mal wieder bin ich überrascht und begeistert, wie schnell Menschen sehr intim über ihre ganz persönliche Situation und Lage erzählen."