"Zeit Verbrechen": Dieser Fall erschüttert Sabine Rückert bis heute
Sabine Rückert (63) ist in Deutschland eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kriminalberichterstattung. Die ehemalige Gerichtsreporterin hat das Kriminalmagazin "Zeit Verbrechen" gegründet und führt seit 2018 durch den gleichnamigen Podcast, in dem sie mit ihrem Kollegen Andreas Sentker (60) über spektakuläre, bewegende und komplexe Kriminalfälle spricht. Viele der Geschichten hat sie selbst recherchiert.
Vier Podcast-Folgen wurden mit einer hochkarätigen Besetzung wie Sandra Hüller (46) und Lars Eidinger (48) verfilmt. Entstanden sind vier preisgekrönte Kriminalfilme, die nach ihrer Premiere auf der Berlinale jetzt am 6. November bei RTL+ erscheinen. Dazu gibt es noch vier Dokus, in denen Sabine Rückert erneut tief in die Fälle eintaucht.
Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news erzählt sie, wieso ihr die authentische Verfilmung der Kriminalfälle so wichtig war, welche der Geschichten sie noch heute nachhaltig beschäftigt und was es braucht, damit sie sich nach all den Jahren noch richtig in einen Fall festbeißt.
Wie war die Idee für Sie, Ihre Podcast-Folgen zu verfilmen? War das etwas, das Sie sich für den Podcast vorstellen konnten?
Sabine Rückert: Also zunächst überhaupt nicht, weil ich mir ja nicht mal vorstellen konnte, was es mit einem Podcast auf sich hat und ob unser Unternehmen überhaupt was wird. Dass es da eine Verfilmung geben könnte, war weit weg. Ich war allerdings schon daran gewohnt, dass die Artikel, die ich geschrieben habe, vom Fernsehen ausgeschlachtet wurden. Ich habe mich sogar einmal per Anwalt beschwert beim Mitteldeutschen Rundfunk, weil sich eine Drehbuchautorin für den "Tatort" praktisch wörtlich an meinen Texten bedient hat. Das habe ich durch Zufall mitbekommen, weil ich den "Tatort" gesehen habe - die hatte den Plot geklaut und meinen Text für ihre Dialoge ausgeraubt nach Strich und Faden. Sogar den Titel hatten sie geklaut. Also das war schon irre. Dass wir beraubt werden von Drehbuchautoren, denen selbst nichts einfällt, das bin ich also gewohnt. Aber dass eine journalistische Leistung mit erheblichem Aufwand seriös verfilmt wird, das war mir neu und für mich auch unvorstellbar.
Wie wichtig war es Ihnen, dass die Filme die Fälle möglichst authentisch abbilden?
Rückert: Es war ausgemacht, dass sich die Filme an die Fälle halten und nicht als Steinbruch dienen für die Ideen von irgendwelchen Drehbuchautoren. Dass da beispielsweise nicht noch eine politisch korrekte Aussage obendrauf gepflanzt wird oder zentrale Figuren hinzuerfunden werden, die es in Wirklichkeit gar nicht gab - das wollte ich nicht. Wirklich geärgert hat mich vor einiger Zeit eine Verfilmung in der ARD, "Das Geheimnis des Totenwaldes". Das ist eine Serie, die bei uns in der "Zeit" recherchiert und als Kriminalserie veröffentlicht wurde - und dann mit dem identischen Titel in der ARD verfilmt worden ist, selbstverständlich ohne zu fragen. Es geht im Original um eine Frau, die verschwindet, und ihr Bruder, der ein hohes Tier bei der Polizei ist, klärt 25 Jahre später die Ermordung seiner eigenen Schwester auf. Die ARD hat aus der großartigen und hartnäckigen Ermittlung dieses verzweifelten Kriminalbeamten die Großtat einer jungen, besserwisserischen und schnippischen Kriminalbeamtin gemacht, die den Fall dann natürlich alleine aufklärt. Der wahre Held, der Bruder des Opfers, kommt nur am Rande vor. Dafür hatten sie eine tapfere, kleine Kommissarin hinzuerfunden, die gut aussieht und es allen Männern zeigt - und genau diese Art von Verfilmung hasse ich. Genau vor diesem Quatsch will ich meine Texte schützen. Und das habe ich der Produktionsfirma auch gesagt. Drei unserer vier Verfilmungen halten sich auch ziemlich genau ans Original, der vierte Film entfernt sich etwas davon, allerdings nicht vom Geist, sondern nur vom Ort. Das ist "Der Panther", der Film mit Lars Eidinger. Aber das ist auch schon wieder so ungewöhnlich und so wenig politisch korrekt, dass ich damit total einverstanden bin.
Ihr Podcast lebt von der Ich-Erzählung. Mit der Verfilmung wird dieses Konzept aus den Angeln gehoben, es wird etwas gezeigt, statt diskutiert. Inwieweit verändert das die Wirkungsweise der Fälle?
Rückert: Ich bin als Person halt nicht mehr dabei. Meine Rolle wird jetzt von der Kamera übernommen, aber die Kamera hat sich immer an meine Sicht der Dinge gehalten. Der Autor ist zwar nicht mehr zu sehen und auch nicht mehr zu hören, aber es ist seine Geschichte und sie ist aus der Perspektive erzählt, die er für richtig gehalten hat. Und insofern bin ich damit fein.
Im Film "Dezember" geht es um den Fall von Robert, der von Polizisten in einer aussichtslosen Situation ausgesetzt wird und schließlich ums Leben kommt. In der dazugehörigen Doku sprechen Sie von einem "Gefühl der Ausweglosigkeit". Hat Sie das bei Ihrer Arbeit oft überkommen?
Rückert: Immer mal wieder, ja. Also der Fall von Robert aus "Dezember", das ist fast ein traumatischer Fall für mich. Der ist ganz in der Nähe passiert, wo ich wohne. Ich fahre da sogar öfter dran vorbei. Auch deshalb ist es ein Fall, der mich nicht loslässt. Das war schrecklich. Und vor allem ist es furchtbar, dass es nicht nur ein Unfall war, sondern ein böser Wille. Es ist der böse Wille von Polizisten, also Menschen, von denen man eigentlich das Gute erwartet. So wie es einen besonders erschreckt, wenn Klinikpersonal mörderisch wird oder Eltern ihre Kinder zu Tode misshandeln. Wenn die Polizei sich dazu anschickt, arglosen Bürgern Böses anzutun, dann ist es noch mal ein besonderer Schock.
Wie schaffen Sie es, eine professionelle Distanz zu den Fällen zu wahren?
Rückert: Ich nehme einen Fall so lange mit nach Hause, bis er aufgeschrieben und veröffentlicht ist. Dann ist er sozusagen geboren und in der Welt. Und ich bin ihn los. Dann sage ich mir, es war eine schlimme Sache und es ist gut, dass ich darüber berichtet habe. Aber jetzt ist sie vorbei. Es war nicht mein Erlebnis, sondern das Erlebnis fremder Leute. Ich muss nicht das Leben von anderen Leuten auch noch mitleben. Ich bin mit meinem ausgelastet.
Wie war es für Sie, Ihre eigens recherchierten Fälle schließlich auf der Leinwand zu sehen?
Rückert: Es ist natürlich ein Riesenerlebnis. Gerade was den allerersten Fall angeht, eben diesen Fall "Dezember", wo es um dieses furchtbare Fehlverhalten zweier Polizisten geht, da musste ich wirklich weinen - jedes Mal. Ich habe den Film jetzt mindestens fünfmal gesehen und mir kommen immer die Tränen, weil Roberts Tod so authentisch verfilmt ist. Der Film hält sich so an den Text und so an die Geschehnisse und so an die Akten, dass es mich jedes Mal wieder vom Stuhl hebt, wenn ich ihn sehe und ich bin wirklich erschüttert.
Gibt es nach all Ihren Erfahrungen noch Fälle, die Sie so richtig fesseln?
Rückert: Ja, gibt es. Aber es gibt natürlich immer weniger. Der Mensch ist eben der Mensch. Jeder hat eine Nase, jeder hat zwei Ohren und jeder hat eine Leber. Und ein bisschen ist es auch mit den Kriminalfällen so. Die Mörder und Verbrecher unterscheiden sich jetzt auch nicht so grundsätzlich voneinander. Die haben immer die gleichen Motive, die Fallgestaltungen sind auch häufig ähnlich. Deswegen ist es jetzt nicht mehr so, dass mich jeder Kriminalfall, so wie das früher war, vom Stuhl haut. Aber es gibt immer noch Fälle, die so besonders, so ungewöhnlich und auch so komplex sind, dass sie mich hineinziehen. Mich interessiert, je älter ich werde und je mehr ich mich in diesem Feld auskenne, immer mehr, wie gehen die Strafverfolgungsbehörden eigentlich mit den beteiligten Personen um? Kritik an den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten ist, finde ich, viel zu wenig durchdacht in Deutschland. Meist wird bloß gemeckert, wenn Richter jemanden laufen lassen. Und dass sie das oft zu Recht und aus gutem Grund tun, spielt in der Presse keine Rolle. Aber dass es jemand erkennt, wenn Staatsanwaltschaften oder Gerichte Leuten wirklich schaden, ist selten. Das sehen die meisten Journalisten nicht. Die sitzen im Gericht und schreiben ihre Storys auf, aber blicken nicht durch. Das ist ein großes Problem. Das ist zum Beispiel ist etwas, wofür ich mich interessiere.