Zeitenwende prognostiziert - Sozialforscher sicher: Deutschlands elitärer politischer Linksruck ist am Ende

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dpa, Andreas Herteux

Asyl, Identitätspolitik, Belehrungstendenzen, Absturz der Grünen: Deutschland erlebt gerade das Ende des „Linksrucks“ und der postmateriellen Vorherrschaft. Sozialforscher Andreas Herteux betrachtet die Hintergründe und wirft einen Blick in eine mögliche Zukunft.

Von der Migrationsdebatte über Klimakrise bis zur Identitätspolitik: Jahrelang bestimmten postmaterielle Vorstellungen, als jene immateriellen Ziele, wie Umweltbewusstsein, individuelle Selbstverwirklichung, globale Gerechtigkeit, Anti-Kolonialismus, humanistischer Internationalismus, grenzbefreites Weltbürgertum oder ethische Schwerpunktsetzungen, den politischen und medialen Diskurs.

Grundsätzlich handelt es sich dabei, und das ist eine wichtige Anmerkung, um Ideale, die in vielen Fällen nicht zu kritisieren sind, allerdings neigten einige der Versuche, diese realpolitisch umzusetzen oder aber die Gesellschaft entsprechend zu gestalten, zu einem Absolutheitsanspruch, der oft nur noch begrenzt Diskussionen zuließ sowie gelegentlich das Gespür für das Mögliche verlor.

Es entstand zu häufig das Gefühl einer belehrenden Politik der Alternativlosigkeit ausgesetzt zu sein, die tatsächlich erstaunlich oft wenig Interesse an den mannigfaltigen Bedürfnissen der Menschen zeigt, bzw. diese mit dem Verweis auf einen höheren Sinn marginalisierte.

Es gelang daher über viele Jahre gelang nicht, einen Balance zwischen Idealismus und Pragmatismus zu finden und auch das ist nun ursächlich dafür, warum die Dominanz postmateriellen Handelns nun endet.

Doch bevor wir uns diesem interessanten Vorgang widmen, müssen wir vorab mit einem beliebten Mythos aufräumen, denn fälschlicherweise wurde der erfolgreiche Marsch derartiger Ideen immer wieder mit einem „Linksruck“ gleichgesetzt.

Postmateriell ist nicht links

In Wirklichkeit haben linke Ideale und postmaterielle Vorstellungen Schnittmengen, sind jedoch nicht deckungsgleich. Manch Kritiker mag nun protestieren, denn vieles, was sich theoretisch definieren lässt, verschwimmt in der Praxis und doch erscheint es für das Verständnis unserer Gegenwart relevant, auf die Unterschiede zu verweisen.

Der Postmaterialismus, und das soll nicht verschwiegen werden, ist für linke Interventionen sicher anfälliger als für rechte oder religiös-motivierte. Man denke hier nur an Fridays for Future, wo mit zunehmenden Bekanntheitsgrad urplötzlich auch lautere anti-kapitalistische, anti-semitische oder anti-westliche Töne zu hören waren und sind, welche die Organisation in eine tiefe Identitäts- und Richtungskrise, vielleicht mittel- bis langfristig, dies deuten zumindest Umfragen an, auch in die Bedeutungslosigkeit, gestürzt haben. Ob man hier nun, wie es manche Medien getan haben, von linksextremistischer Unterwanderung reden sollte, kann dabei offenbleiben.

In manchen politischen Parteien war es dagegen umgedreht. Postmaterielle Ideen, oft von den Jugendorganisationen der Parteien vorgetragen, haben klassische linke Themen verdrängt. Gerade in der SPD und bei der Linken ist dieses unübersehbar. Minderheitenpolitik ist dann wichtiger als eine stabile Rente. Neo-Kolonialismus relevanter als bezahlbarer Wohnraum. Der klassische Arbeiter wird zur Randfigur, aber dazu an späterer Stelle mehr.

Das deutet bereits an, dass auf der gesellschaftlichen und individuellen Ebene postmaterielle und linke Positionen durchaus auch Gegensätze sein können. Doch halten wir es konkreter.

Das postmaterielle Milieu in Deutschland

Es gibt in Deutschland ein ganzes Milieu, das als postmateriell bezeichnet wird und ca. 12 Prozent der Bevölkerung umfasst. In der Regel sind diese Leute gebildet, eher im mittleren Alter, leben urban, Vermögen ist vorhanden und haben ein gutes Einkommen. Verbeamtungen sind keine Seltenheit, finanzielle Sorgen spielen eine untergeordnete Rolle und man wählt überproportional die Grünen. Die Grundbedürfnisse sind befriedigt . Es ist Zeit für höhere Ideale. Es macht Sinn, sich für sie einzusetzen.

Folgerichtig ist es auch ein Kennzeichen dieser Lebenswirklichkeit, dass man offen für den Weltfrieden, Anti-Kolonialismus und den globalen Süden einsetzt. Ein Engagement für die höchsten Ziele, die zugleich auch Teil der eigenen, ebenfalls von postmateriellen Gedanken getriebenen, Selbstverwirklichung ist. Gerade zweites muss genannt werden, denn es geht auch um Entfaltung des Ichs. In diesem dualen Handeln gibt es dann nicht selten erstaunlich wenig Raum für Themen wie soziale Gerechtigkeit oder die Bedürfnisse der - oft als privilegiert betrachteten - Bevölkerung.

Das ist nicht unbedingt mit Ignoranz verbunden, aber ein Milieu, so fließend die Grenzen auch sein mögen, ist immer auch eine Blase, was zu der oft bizarren Situation führt, dass man zwar mit den Nöten Afrikas bestens, mit den Problemen in den schwierigen Vierteln einige Kilometer weiter, aber gar nicht vertraut ist. Eine sozial-ökologische Transformation, die auch ihren Sinn haben mag, wird befürwortet, allerdings die Auswirkungen für Industrie und Arbeitsplätze dabei nicht n den Mittelpunkt gerückt.

Ein typisches, noch konkreteres Beispiel aus dieser Legislaturperiode ist das Heizungsgesetz, bei dem, mit Blick auf die Rettung des Weltklimas, grundsätzlich eine gute Sache, eine massive Mehrbelastung der Bürger in Kauf genommen worden wäre, wenn es nicht massiven Widerstand gegeben hätte. Ideelle Ziele rechtfertigen eine riskanten Umbau der Wirtschaft und auch beim Thema der offenen Grenzen ist der Gedanken daran, einer globalen Verpflichtung nachzukommen nicht selten wichtiger als manch drängende Herausforderungen wie überlastete Sozialsysteme sowie Kommunen oder die allgemeine Wohnungsnot.

Postmaterielle Ideen sind daher nicht unbedingt links, sondern bildeten eine ganz neue politische Kategorie, die sich, schon dem Namen nach, von materialistischen Zielen wie wirtschaftlichem Wachstum oder Sicherheit gelöst haben.

Siegeszug des Postmaterialismus

Trotzdem waren sie lange Zeit eine Erfolgsgeschichte, die irgendwann in den 90ern begann, als sich das freiheitlich-demokratische System westlicher Prägung scheinbar final durchgesetzt hatte.

Oft erst nur denkerischer Natur an den Universitäten, sickerten das Gedankengut, langsam in die Köpfe der nachkommenden Generationen und damit auch in die Gesellschaft, in der die neue akademische Elite Karriere machte und nicht selten, und jetzt nähern wir uns bereits den 2010er Jahren irgendwann Spitzenpositionen an den Schnittstellen, unter anderen von Medien, Lobbyverbänden und Politik, einnahmen. Hinzu kam ein Wille zur Gestaltung. Die post-materielle Lebenswirklichkeit, welche es in den vielen sozialwissenschaftlichen Modellen vor einem Jahrzehnt oft noch gar nicht oder viel kleiner aufgeführt wurde, ist sendungsbewusst. Es will führen und ja, auch erziehen. Es ist ein Leitmilieu.

Parteien wie die Grünen, profitierten von dieser Verschiebung der gesellschaftlichen Prioritäten. Die jüngeren brachten ihre Ideen mit, die Medien begegneten ihnen häufig mit Wohlwollen und Stück für Stück dominierten postmaterielle Themen weite Teile des Diskurses. Die SPD und die Linke folgte. Das brachte, um die historische Schau zu vervollständigen auch die CDU dazu, sich in diese Richtung zu orientieren. Die Grenzöffnungen sind hierfür ein gutes Beispiel.

Zersplitterte Gesellschaft in Deutschland

Parallel dazu, und auch dies ist ein Teil der Wahrheit, fehlte es an einem entsprechenden Gegengewicht. Konservatismus und Liberalismus waren intellektuell am Ende und die Sozialdemokratie suchte nach einem Ausweg aus den Altlasten der Schröderzeit.

Es fehlte am Verständnis dafür, dass sich die Gesellschaft in Deutschland verändert hatte. Sie zersplitterte in immer mehr Lebenswirklichkeiten mit sehr unterschiedlichen Ansichten von der richtigen Art zu denken, handeln und leben, zersplitterte und glitt immer mehr in den Milieukampf:

Bei den Prekären (ca. 8 Prozent der Bevölkerung) geht es oft um das akzeptable Überleben sowie den materiellen Anschluss an die Mittelschicht. Hedonisten (ca. 9 Prozent) wollen primär Spaß und Konsum. Den Performern geht es um Leistung (10 Prozent).

Die etwas älteren Traditionelle (ca. 10 Prozent) möchten möglichst keine Veränderung der eigenen kleinbürgerlichen Lebensweise, das sehr junge neo-ökologische Milieu (8 Prozent) fordert genau das ein. Die nostalgisch-bürgerliche (ca. 11 Prozent) braucht einen sicheren und geordneten Rahmen, der sich nur langsam verändert, während die Expeditiven (ca. 10 Prozent) genau diese Enge ablehnen und immer nach dem Neuen streben sowie die alten Grenzen einreißen möchten.

Die adaptiv-pragmatische Mitte (ca. 12 Prozent) ist da anpassungsfähiger, muss aber überzeugt werden. Das gut-betuchte konservativ-gehobene Milieus (11 Prozent) sieht sich als Verteidiger der alten Ordnung, während das schon angesprochene postmaterielle Lebenswirklichkeit (ca. 12 Prozent) ihre Vorstellungen von Wokeness, Vielfalt, Diversität und Gerechtigkeit sendungsbewusst für alle durchsetzen will.

Vermutlich hat die individualisierende Wirkung des Internets sowie die Migrationsbewegung ab 2015 zahlreiche weitere geschaffen, aber das wissen wir leider nicht genau, da keine entsprechenden Daten vorliegen.

In der Summe trafen die postmateriellen Vorstellungen und deren Einfluss daher auf eine zersplitterte Gesellschaft, die selbst mit sich und um Orientierung rang und hatte es daher auch nicht sonderlich schwer, eine dominante Rolle einzunehmen.

Kollektiver Individualismus unterwandert postmaterielle Vorherrschaft

Ein intellektuelles Gegengewicht, so redlich sollte man sein und muss es leider auch wiederholen, existierte nicht.

Dafür gab es allerdings einen unsichtbaren Begleiter, den kollektiven Individualismus, der wiederum dafür sorgte, dass sich auch die postmateriellen Ideale zersplitterten und sich teilweise entweder, beinahe schon sektiererische Kleingruppen, bildeten oder aber Widersprüche entstanden, man nehme als Beispiel nur den Einsatz Frauenrechte auf der einen Seite und die Unterstützung der Ansiedlung von patriarchalischen Strukturen in Deutschland auf der anderen.

Das Konzept des kollektiven Individualismus, nur damit es Erwähnung findet, bezieht sich auf die Idee, dass Individuen in einer Gesellschaft zunehmend durch digitale und technologische Rahmenbedingungen geformt werden, die sowohl individuelle Selbstverwirklichung ermöglichen als auch gleichzeitig unsichtbare, kollektive Strukturen schaffen. In einem solchen System können Menschen scheinbar ihre eigenen Entscheidungen treffen, während sie dennoch in vorgegebene Rahmen eingebettet sind, die ihr Verhalten steuern und lenken. Doch dies nur am Rande.

Verlust der postmateriellen Dominanz

Ab etwa 2020 begann ein langsamer Rückgang der postmateriellen Dominanz in Deutschland, die gerade erst mit Fridays for Future und teilweise 26 Prozent in Umfragen für die Grünen, ihren absoluten Höhepunkt erlebte.

Hauptgrund war, dass in sehr vielen Milieus die Grundbedürfnisse, seien sie materieller und immaterieller Natur unbefriedigt blieben oder gar marginalisiert wurden. Teilweise wurde die Wertvorstellungen oder Lebensweisen der jeweiligen Gruppierungen selbst in Frage gestellt.

Zudem intensivierte der bereits angesprochene kollektive Individualismus den Wunsch nach Selbstentfaltung und nutzte im Grunde genommen damit einen postmateriellen Wert gegen die Vorherrschaft des Postmaterialismus. Kronos frisst seine Kinder.

Dieses führte zuerst zu Milieukonflikten, dann zu Milieukämpfen und schließlich zu brüchigen Milieukoalitionen unterschiedlichster Lebenswirklichkeiten, die sich schließlich gegen die postmaterielle Vorherrschaft richteten. Möchte man ein praktisches Beispiel dafür benennen, so soll auf die Ampel-Politik verwiesen werden, die es schaffte, zahlreiche Milieus in Deutschland gegen sich aufzubringen, die unter normalen Umständen keine Gemeinsamkeiten hätten. Mit einem derartigen Mechanismus werden auch Protest- und Randwähler geschaffen, die vom Grunde her gar keine sind oder zumindest waren.

Ein solch wackeliger Zusammenschluss ist aber immer temporärer Natur, denn er eint nur die Ablehnung der ideellen Überhöhung und wird wieder zersplittern. Bis er aber zerbricht, ist es gerade für Extremisten ein leichtes mit ihnen zu jonglieren, wenn sich nicht eine Politik des konstruktiven Pragmatismus in der Mitte findet und die Interessen wieder ausgleicht. Ob diese Balance in Deutschland wieder gefunden werden kann, wird sich zeigen.

Zukunftsperspektiven - Wie es dann weitergeht?

Nun, das Zeitalter der postmateriellen Dominanz in Politik und Gesellschaft scheint vorüber. Der kollektiven Individualismus wird vorherrschen. Er ist allerdings eine Kraft, die keine Antreiber braucht. Er wirkt. Auch hier muss es nicht abstrakt sein, denn die Folgen sind ganz konkret sichtbar. Eine veränderte Arbeitsmoral, der gar nicht unberechtigte Wunsch nach Selbstentfaltung, das sinkende Interesse an Gemeinschaft, die Überhöhung des eigentlichen Selbst im Netz, die Verschiebung von Prioritäten, Werteveränderungen, die Frustration mit einer kleineren Rolle in der Gesellschaft – all das sind sichtbare Zeichnen.

Es wird eine Welt sein, in welcher der Einzelne nach individueller Verwirklichung, angetrieben durch die Mechanismen der Digitalisierung, strebt.  Mancher mag auch weiter übergeordneten postmateriellen, linken, rechten, religiösen oder sonstigen Zielen streben und doch gelten die gleichen Gesetzmäßigkeiten. Umso jünger der Mensch, umso sichtbarer die Zeichen. Den Homo stimulus gibt es bereits.

Die Lebenswirklichkeiten werden dagegen weiter zerfallen und wenn besagter Prozess ausgebremst wird, dann nur, wenn Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden oder das Selbstverständnis angegriffen wird.

Kritiker werden nun einwerfen, dass dies nur ein mögliches Zukunftsszenario ist. Das ist ein berechtigter Einwand. Alles lässt sich gestalten.