Zukunftsforscher schlägt Alarm - Wie wir die vorprogrammierte Katastrophe im Pflegenotstand noch abwenden

Die Pflege steht am Scheideweg zwischen Krise und Chance. (Bild: Getty Images / Maskot)
Die Pflege steht am Scheideweg zwischen Krise und Chance. (Bild: Getty Images / Maskot)

Die Pflege steht laut Thomas Druyen am Scheideweg zwischen Krise und Chance. Der Experte für Zukunftswissenschaften beleuchtet, warum ein Umdenken in der Gesellschaft jetzt entscheidend ist.

Wir tun so, als sei die Pflege nur ein Notfall, der an den meisten Menschen vorbeigeht. Dementsprechend behandeln wir auch Pflegefachpersonen mit mangelnder Wertschätzung. In der Coronazeit wurde ein bisschen geklatscht. Aber dieses sporadische Lob wirkte eher zynisch. Am Beispiel der Pflege können wir sehr gut ablesen, dass wir viele Vorkommnisse, die uns nicht gefallen, verdrängen, ignorieren und unter dem Mantel des Tabus verstecken.

Im Bewusstsein der Bevölkerung stehen hinter dem Begriff der Pflege unangenehme, intime und bedrohliche Assoziationen: Tod, Sterben, Krankheiten, Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit, Verlust der Eigenständigkeit bis hin zur Intimwäsche, Bettpfannen und Ohnmacht. Damit will man sich im anstrengenden Alltag nicht gerne beschäftigen.

Diese Wahrnehmung ist gefährlich und kontraproduktiv, denn das Ignorierte kommt irgendwann mit Macht in den Alltag zurück und zwingt uns zur Anerkennung. Aber dann ist das Leid, die Überraschung und oftmals auch die finanzielle Katastrophe vorprogrammiert.

Das bedeutet, dass etwas Verdrängtes immer wiederkommt, aber dann mit potenzierter Wirkung. Ohne Prävention schädigen wir uns selbst, bis hin zur Ausweglosigkeit. Allein unter diesem Aspekt können wir von der Pflege und den anderen Gesundheitsfachberufen eine Menge lernen. Die Rettungsdienste, die Hebammen, die Sanitätshäuser, die Seniorenheime und die Physiotherapeuten und so weiter, sie stehen uns nicht nur in der Not zur Verfügung, sondern vor allem auch in der Vorsorge, in der Vorausschau und in der Vorbeugung.

Ohne diese Berufe und den darin aufopfernd arbeitenden Menschen wären wir alle geliefert, hilflos und ohnmächtig. Es ist an der Zeit, diese Erkenntnis ultimativ mit Wertschätzung und mit veränderter Lebens- und Pflegeplanung umzusetzen. Hier liegt ein enormes Potential positiver Zukunftsgestaltung.

Wir alle wissen, dass Fensterkitt eine wichtige sichernde, dauerhafte und konstruktive Funktion erfüllt. In diesem metaphorischen Sinne ist die Pflege die ethische Grundlage unseres Zusammenlebens. Ohne diese stabilisierende und problemlösende Verbindung wären wir rettungslos verloren. In der Pflegebereitschaft zeigt sich der empathische Urkern unserer Gesellschaft. Die Pflege umfasst aber sehr viel mehr als nur einen Notdienst.

Sie ist die wichtigste und vornehmste Pflicht in der menschlichen Koexistenz. Sie beginnt vor der Geburt, sie wirkt maximal in der Kindheit und erstreckt sich über das ganze Leben bis über den Tod hinaus im Sinne der Pflege der Ahnen und der Erinnerung. Die Pflege unserer humanen Beziehungen steht fundamental im Zentrum unseres Lebens. Auch die Pflege unseres eigenen Charakters spielt eine existenzielle Rolle, wie natürlich auch die Pflege unseres Verhältnisses zu anderen Kulturen und anderen Religionen.

Darüber hinaus pflegen wir die Geschichte, die Rückbesinnung, das Andenken an große Persönlichkeiten, außergewöhnliche Frauen und Männer, Denkmäler, Museen, den olympischen Gedanken und unendlich viel mehr. Im Grunde ist das Pflegen und die Pflege der Inbegriff des ethischen Handelns.

Diese Pflege ist aber aktiv, konkret und pragmatisch. Sie lebt von der Umsetzung und dem wirklichen Tun. Pflege als Ideal, als Ankündigung, als Versprechen, dass nicht eingehalten wird, ist sinnlos. Daher nenne ich die eigentliche Disziplin, in der die Pflege stattfindet, auch Konkrethik. Das bedeutet, das umgesetzte Gute.

Keine Pflegefachkraft hat etwas vom periodischen Klatschen, wenn die Lebens- und Arbeitsbedingungen unzulänglich sind und bleiben. Daher macht es Sinn, die Pflege als eine konkrethische Tugend zu bewerten und ihre Systemrelevanz allgemein und nachhaltig anzuerkennen.

Der demografische Wandel ist das Paradebeispiel für individuelle, gesellschaftliche und politische Verdrängung. Seit vielen Jahrzehnten kennen wir die Altersstruktur unserer Bevölkerung. Wir wussten, dass die Babyboomerinnen und Babyboomer in Rente gehen und riesige Lücken hinterlassen. Lücken im Arbeitsmarkt und in der Renteneinzahlung. Allein daraus ergeben sich existentielle Konsequenzen, die sich, je länger man sie nicht angeht, potenzieren und immer gewaltiger werden. Da sind wir nun selbstverschuldet angekommen.

Es ist kein Geheimnis, dass sich die Lebenserwartung in unserer Gesellschaft in den letzten hundert Jahren fast um ein Drittel verlängert hat. Das ist phantastisch.

Aber aus dieser bekannten Tatsache haben wir einen Bumerang durch Unterlassung zum Fliegen gebracht, der uns nun um die Ohren saust. Man kann jetzt von niemandem ohne unmittelbare Not verlangen, mehrere Jahre länger zu arbeiten. Aber hätte man vor ca. dreißig Jahren, die Bedingungen waren sehr wohl bekannt, die Menschen davon überzeugen wollen, jede Woche 60 Minuten dranzuhängen, hätte man ein ganzes Arbeitsjahr gewonnen. Unser Problem wäre heute zumindest entschärft.

Es geht mir um Weitsicht, wenn sie so wollen um einen geistigen Zinseszins. Aber wo sind die Führungspersönlichkeiten, die den Mut haben, die harte Wahrheit zu verkünden? Sie allein wird Frieden stiften und Lösungen ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund hat sich auch der sogenannte Pflegenotstand ohne Not, sondern nur durch Verdrängung und Kurzsichtigkeit, absehbar aufgebaut. Schon viel früher hätte man den Pflegefachkräften die unerträgliche Bürokratie, die sie vom Pflegen abhält, weitgehend ersparen können. Man hätte die Reputation dieser Berufe vehement stärken müssen, um so auch dem fehlenden Nachwuchs eine attraktive Option zu vermitteln.

Es ist ein großer Segen, dass wir nun mit der Digitalisierung, mit der Künstlichen Intelligenz und mit der Telematikinfrastruktur digitale Technikwerkzeuge zur Verfügung haben, die die Perspektiven der Gesundheistfachberufe grundlegend verbessern können.

Wir wissen genau, welche technischen Möglichkeiten es schon jetzt gibt und welche in greifbarer Nähe sind. Und schon wieder begegnen wir der Bedenkenträgerei, der Skepsis und der Abortparole: erst mal abwarten. Wir sollten endlich die Zukunft ermöglichen und nicht störrig die Vergangenheit verteidigen.

Im Grunde ist es ein einfacher psychologischer Trick. Wenn ich meine Gegenwart aus der Zukunft betrachte, habe ich viel mehr Möglichkeiten der Gestaltung und entfliehe der Enge meiner jetzigen Befindlichkeit, meiner Emotionen, meiner Sorgen. Schaue ich aus einer Zukunft in zehn oder zwanzig Jahren auf meine momentane Situation, gewinne ich einen ganz anderen und freieren Blick. Dies ermöglicht, das Kommende vorausschauender und zielführender zu planen. Genau das tun wir nicht.

Wir sind Resilienz- und Gewohnheitstiere. Erst mit dem Rücken zur Wand laufen wir zur Hochform auf. Diese Haltung ist im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, in der alles datenbasiert berechnet werden kann, geradezu absurd. Im Rahmen unserer Forschung in der Zukunftspsychologie wird immer deutlicher, dass uns ein Zukunftsbewusstsein enorm auf die Sprünge helfen würde und uns erst in die Lage versetzt, souverän mit den neuen Technologien umzugehen.

Vor diesem Hintergrund ist ein oder das Pflegebewusstsein geradezu ein neuer kategorischer Imperativ. Pflege andere Menschen so wie Du selbst gerne gepflegt werden würdest. In einer Gesellschaft, in der die Pflegebranche und die anderen Gesundheitsfachberufe, die sich und ihr Leben in den Dienst aller Bürgerinnen und Bürger stellen, hoch angesehen sind und ihre beruflichen Kompetenzen ohne hierarchische Bevormundung umsetzen dürfen, kann es nur in eine bessere Zukunft gehen.

Aus den Antworten geht mein Eindruck hervor, dass wir in Bezug auf unsere Zukunftsfähigkeit bereits zehn nach zwölf haben. Aber das ist das tolle an der Menschheit, wenn sie will, könnte sie alles erreichen. Um auch der Pflege im genannten Sinne ein paar Impulse zu geben, habe ich mit der Präsidentin des Deutschen Pflegerates ein kleines Büchlein geschrieben. Es passt tatsächlich in jede Westen - und Hosentasche. Gerne hätten wir auch Empfehlungen an große Portale genagelt, aber zum Thema gehört eben auch Demut.

Insgesamt haben wir uns bemüht kurz und bündig ein neues Pflegebewusstsein zu empfehlen. Gerne beschreibe ich kurz einige Ansichten. Grundsätzlich geht es um die Denkweise und das Mindset Pflege: „ Die Mentalität und die innere Einstellung der Pflegenden ist die Grundvoraussetzung für eine bessere Wahrnehmung zum Wohle der zu Pflegenden und der Gesellschaft. Dazu kommt: Wie die Bevölkerung über Pflege denkt, ist Grundvoraussetzung, um der Pflege eine bessere Zukunft zu ermöglichen.“

Des weiteren erläutern wir eine Konkrethik für die Pflege, also ein Vorsatz, der nur in der guten Umsetzung eine wahre Handlung sieht. Es geht auch um Versorgungs- und Patientensicherheit, um das Ökosystem Gesundheitsförderung, um die aktive Beteiligung der Babyboomer an der Pflegezukunft, um die Würdigung der Pflege durch alle Gesellschaftsschichten und um die Verankerung der Pflege in unserer Verfassung. Zum Schluss braucht die Pflege und unsere gesamte Gesellschaft einen neuen Generationenpakt.

Und für uns zentral als letztes die Botschaft: Die künstliche Intelligenz verhilft mit ihren Anwendungen der Pflege zu einem Quantensprung. Danke!