„Ist zumutbar“ - Pass-Trick statt Bürgergeld: Bundesländer zwingen Ukrainer in den Kriegsdienst
Weitestgehend unbemerkt setzen viele Bundesländer auf einen Trick, um ukrainische Wehrdienstverweigerer zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen. Zwar bleiben ihnen noch Schlupflöcher – doch die sind tückisch.
Im Video: Hessen verweigert ukrainischen Wehrpflichtigen Ersatzpässe
Seit Monaten diskutieren Politikerinnen und Politiker darüber, wie mit ukrainischen Geflüchteten umzugehen ist, die in ihrer Heimat wehrpflichtig sind. Manche wollen sie mit gutem Zureden zur Rückkehr bewegen, andere sehen einen Hebel bei der Streichung des Bürgergelds . Während die mitunter hitzige Debatte läuft, haben nun einige Bundesländer weitestgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit Fakten geschaffen – mit einem Trick.
Für größeres Aufsehen hat dieser erstmals in der vergangenen Woche gesorgt. Fast beiläufig erklärte die hessische Landesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD: „Hessische Ausländerbehörden werden ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter grundsätzlich keine deutschen Ersatzreiseausweise ausstellen. Es ist ihnen zumutbar, zur Passbeschaffung in die Ukraine zu reisen und der Wehrpflicht nachzukommen.“
Für einen neuen Pass bleibt nur die Ukraine-Rückkehr
Die zwei Sätze sind für wehrpflichtige Ukrainer folgenreich. Eigentlich könnten sie in der Berliner Botschaft oder den Konsulaten Pässe verlängern oder verloren gegangene ersetzen lassen. Doch diese Dienstleistung hat die Ukraine eingeschränkt – ein Druckmittel der Regierung in Kiew.
Stattdessen müssen die Männer in ihre Heimat fahren und dort das Dokument verlängern lassen – würden aber wahrscheinlich sofort zum Kriegsdienst eingezogen werden. Bislang kam es dazu nicht, weil die Bundesländer den Ukrainern einen Reiseausweis für Ausländer ausgestellt haben. Das ist nun nicht nur in Hessen keine Option mehr.
Ukrainer machen sich „wegen Fahnenflucht strafbar“
Auf Anfrage von FOCUS online bestätigte Siegfried Lorek (CDU), Staatssekretär im Justizministerium in Baden-Württemberg: „Aufgrund geltenden Rechts erteilen die Ausländerbehörden in Baden-Württemberg bereits heute keine Reiseersatzdokumente an wehrpflichtige ukrainische Männer.“ Auch der CDU-Politiker hält es für zumutbar, dass die betreffenden Personen ihren Wehrdienst ableisten.
„Ihnen geschieht kein Unrecht – im Gegenteil: Sie machen sich nach ukrainischem Recht wegen Fahnenflucht strafbar“, so Lorek, der Teil der grün-schwarzen Landesregierung ist. Man wolle die Ukraine weiter nachdrücklich dabei unterstützen, ihre Wehrfähigkeit zu erhalten. „Dazu gehört es, die Staatsbürger dazu zu bringen, für ihr eigenes Land einzustehen, sei es im Dienst an der Waffe oder in einer anderen Weise.“
Auch in Bayern schließt sich die Landesregierung aus CSU und Freien Wählern dem Vorgehen an. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte FOCUS online: „Ich habe die Bundesregierung wiederholt dazu aufgerufen, den Umgang mit Wehrdienstflüchtlingen aus der Ukraine vernünftig zu klären. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob wir Ersatzpapiere ausstellen, wenn die ukrainischen Pässe abgelaufen sind, sondern insbesondere auch, ob wir mit den jetzigen Regelungen die ukrainische Verteidigungsfähigkeit schwächen.“
Nicht alle Länder machen klare Vorgaben
Tatsächlich gab es zur Frage der Ersatzreiseausweise mehrfach Absprachen zwischen den Bundesländern und dem Bundesinnenministerium. Auch im Haus von Nancy Faeser (SPD) hält man eine Rückkehr der Ukrainer für zumutbar, wie es mit Verweis auf die Aufenthaltsverordnung heißt. Dort ist das Vorgehen in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern klar gedeckt.
Zu einem einheitlichen Ergebnis haben die Bund-Länder-Besprechungen allerdings nicht geführt. In Nordrhein-Westfalen, wo derzeit die meisten Ukraine-Flüchtlinge leben, gebe es „keine Erlasslage zu der Frage der Zumutbarkeit der Passbeschaffung“, wie es aus dem für Flucht und Migration zuständigen Landesfamilienministerium heißt. Eine eindeutige Vorgabe wie in anderen Bundesländern gibt es also nicht, letztlich liegt das Vorgehen bei den Ausländerbehörden.
In Berlin schließt sich zwar die Senatsverwaltung für Inneres der Bewertung von Faeser an und verweist auf „einzelfallbezogene“ Entscheidungen. In der für Integration zuständigen Senatsverwaltung für Soziales sieht man das offenbar kritisch. Es gebe „keinen Grund, von der bisherigen Praxis abzuweichen“, heißt es auf Anfrage von FOCUS online.
Die uneinheitliche Handhabung in den Ländern führt dazu, dass ukrainische Männer beispielsweise in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg den Kriegsdienst fürchten müssen, in Nordrhein-Westfalen hingegen weniger. Möglicherweise könnte ein Umzug in ein anderes Bundesland für mache Männer eine Lösung sein – denn dann wäre eine andere Ausländerbehörde mit anderen Vorgaben zuständig.
Ukraine lässt Hintertür offen – das ist aber tückisch
Nicht nur aus diesem Grund gibt es keinen unmittelbaren Zwang für Ukrainer, in die Heimat zurückzukehren. Die Regierung in Kiew hat ihren geflüchteten Landsleuten eine Hintertür offengelassen – die aber tückisch ist. Um weiterhin konsularische Leistungen in Anspruch nehmen zu können, müssen die Männer sich in der App „Reserve+“ registrieren. Sie dient eigentlich zur Erfassung von Daten für Wehrpflichtige.
So müssen die Nutzer dort zum Beispiel Angaben über ihre Fitness und Eignung zum Militärdienst machen – auch wenn sie eigentlich nur eine konsularische Leistung wahrnehmen wollen. Einberufungsbescheide werden über die App allerdings nicht versendet, versichert das ukrainische Verteidigungsministerium, das sie entwickelt hat.
„Wenn das Spiel vorbei ist, ist auch dein Leben vorbei“
Die Ukrainer trauen der Sache dennoch nicht. Die Anwendung wurde im App-Store von Google zwar mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Auf der Seite finden sich aber zahlreiche zynische Kommentare. Ein Nutzer schreibt beispielsweise: „Sieht aus wie eine Phishing-App.“ Ein anderer kommentiert im Stil einer Rezension für Gaming-Apps: „Geniales Spiel! Optimierung und Grafik auf höchstem Niveau. Aber es gibt einen Fehler: Wenn das Spiel vorbei ist, ist auch dein Leben vorbei.“
Das Verteidigungsministerium reagiert mit einer Standardantwort auf einige der kritischen Bewertungen: „Das Reserve+-Team hat die Menschenrechte sorgfältig geprüft und keine Verstöße festgestellt.“ Man solle bei etwaigen Verstößen das Entwicklerteam kontaktieren, „unser Team wird versuchen, Ihnen bei dem Problem zu helfen“.
Aber nicht nur wegen Bedenken von Kriegsdienstverweigerern kommt die App lediglich auf eine Bewertung von 1,9 von fünf Sternen. Zahlreiche Nutzer beschweren sich darüber, dass die App wegen technischer Probleme oder mangels eines ukrainischen Bankkontos zur Registrierung nicht nutzbar ist. Im Zweifel bleibt einigen trotzt App langfristig also nur eine Möglichkeit: die Rückkehr in die Ukraine.