Zwangsehen, Verschleppung, Gewalt - „Wer einmal verschleppt wurde, kehrt in der Regel nicht zur Familie zurück“
Zwangsheirat und Verschleppung sind nicht nur in den Sommerferien ein Problem. Das Papatya-Team berichtet von erschütternden Fällen junger Frauen, die vor ihrer eigenen Familie fliehen müssen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, und bietet ihnen Schutz.
„Vor den Sommerferien wächst die Angst“, schreibt der Tagesspiegel. In Berlin haben sie am 18. Juli begonnen. In dieser Zeit, so die Hauptstadt-Zeitung, steige die Gefahr für junge Mädchen, zwangsverheiratet zu werden. Doch Zwangsehen drohen jungen Frauen aus streng patriarchalischen Familien das ganze Jahr über, ebenso wie Verschleppung ins Ausland oder Gewalt in der Familie. Darüber berichten die Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation Papatya im Interview mit FOCUS online.
Welche Schicksale das Team schon erlebt hat, welche körperlichen und seelischen Belastungen die Mädchen durchmachen und wie sie in der Kriseneinrichtung Schutz finden, erzählen die Frauen in dem Gespräch gemeinsam - und anonym. Anonymität ist das Wichtigste in ihrem Arbeitsfeld. Niemand, auch nicht das Jugendamt, kennt die Adresse des Ortes, an dem die Betroffenen untergebracht sind.
FOCUS online: Am 18. Juli beginnen in Berlin die Sommerferien. Hauptstadtmedien berichten von einem drohenden Anstieg von Zwangsverheiratungen . Gerade für Kinder aus strengen, patriarchalen Familien bedeute diese Zeit eine große Gefahr. Wie erleben Sie diese Zeit?
Team Papatya: Unserer Erfahrung nach besteht die Gefahr das ganze Jahr über. Wer seine Tochter zwangsverheiraten will, weil etwa ein Ehrverlust droht, der wartet damit nicht bis zu den Sommerferien. Die Gefahr wäre nämlich viel zu groß, dass sich das Mädchen an das Jugendamt wendet, das ihr hilft. Dann handeln die Familien schnell. Wir hatten erst einen Fall, da ist der heimliche Freund einer 14-Jährigen rausgekommen. Innerhalb von zwei Wochen war sie aus der Schule raus, zwangsverheiratet und lebte bei der Schwiegerfamilie in Hamburg. Da wartet niemand auf die Sommerferien.
„Wir nennen es Verschleppung, und manchmal geht dies mit Zwangsverheiratungen einher“
Zwangsverheiratungen sind also das ganze Jahr über ein Problem?
Team Papatya: Dieses Thema mit den Sommerferien hat meist weniger mit Zwangsverheiratung zu tun, sondern vor allem mit der Verbringung ins Ausland. Wir nennen es Verschleppung, und manchmal geht dies mit Zwangsverheiratungen im Ausland einher, ja. Wir glauben allerdings, dass auch Verschleppungen das ganze Jahr über stattfinden. Wir erhalten allerdings vor den Ferien vermehrt präventive Anfragen: „Was soll ich machen, wenn ich erfahre, dass meine Familie plant, mich im Ausland zu lassen?“ oder „Wie kann ich mich vorbereiten, wenn wir in den Sommerferien in unser Herkunftsland reisen und ich vermute, dass ich dortbleiben soll?“, lauten dann die Hilferufe.
Sie haben eingangs von Ehrverlust gesprochen, der Verschleppungen offenbar befeuert. Warum kommt es noch zu Verschleppungen und Zwangsehen?
Team Papatya: Da gibt es diverse Gründe. Oft hat die Verschleppung den Hintergrund, dass die Eltern mit dem Verhalten ihrer Tochter hier nicht zufrieden sind und es als Erziehungsmaßnahme sehen. Sie haben Sorge, dass die Community anfängt zu reden. Das deutsche Hilfesystem ist ihnen zudem oft zu intensiv, und sie wissen, dass ihre Töchter im Heimatland keine Chance auf Hilfe haben. In der Heimat können sich die Mädchen nicht wehren. Kommt es aus irgendwelchen Gründen zu einer Unterbringung in der Jugendhilfe, ist das Ansehen der Familie bereits sehr beschädigt, und die Tochter wird dann schnell ins Ausland gebracht.
Jetzt ist die Adresse Ihrer Zuflucht geheim. Angenommen, jemand befindet sich aktuell in so einer Situation. Was kann diejenige konkret tun, um einen Ausweg zu finden?
Team Papatya: Wir sind präsent, besonders im Internet. Unsere Informationen und Plakate sind in Berlin und bundesweit in vielen Schulen, bei Gleichstellungsbeauftragten und bei der Polizei verteilt. Über unsere Webseite und Schlagworte sind wir leicht zu finden. Betroffene finden uns also, sei es für eine Beratung online oder für eine Aufnahme in unsere Kriseneinrichtung. Oft kommen die Anfragen auch über Schulsozialarbeiterinnen oder das Jugendamt zu uns, die unsere Arbeit kennen und weitervermitteln.
„Wir unterstützen sie von Beginn an und führen eine Gefährdungsanalyse durch“
Für Betroffene ist die Flucht vor der eigenen Familie eine psychisch sehr schwierige Situation. Wenn Sie es schaffen, wie werden sie bei Ihnen aufgenommen?
Team Papatya: Wir haben gewisse Routinen, wenn die Mädchen bei uns ankommen. Wir richten ihnen ein gemütliches Zimmer her und füllen gemeinsam die Aufnahmeformulare aus. Wichtig ist, dass wir ihnen von Anfang an vermitteln, dass sie in absoluter Sicherheit sind. Sie finden hier einen Platz in einer anonymen Schutzeinrichtung; niemand, selbst das Jugendamt, kennt unsere Adresse. Das bedeutet, dass sie sich schnell sicher fühlen können, was essenziell ist, damit sie zur Ruhe kommen und ihre Stabilität wiedererlangen können.
Wie geht es dann weiter für die jungen Frauen?
Team Papatya: Wir unterstützen sie von Beginn an und führen eine Gefährdungsanalyse durch. Sie müssen ihr Handy abgeben, und wir klären sie gründlich über das Hilfesystem und unsere Einrichtung auf. So wissen sie schon im Vorfeld, was sie bei uns erwartet, und sie sind nicht nervös, weil sie nicht wissen, wo sie gelandet sind. Wir geben ihnen auch alle wichtigen Informationen für die nächsten Tage und statten sie mit allen notwendigen Kleidungsstücken und Hygieneartikeln aus.
Hilft es den Betroffenen, Gleichgesinnte zu treffen?
Team Papatya: Absolut. Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Oftmals haben sie vorher mit niemandem darüber gesprochen, wie es ihnen geht oder wie gefährdet sie zu Hause sind. Hier können sie das erste Mal offen über ihre Probleme mit der Familie sprechen, weil sie wissen, dass alle anderen ähnliche Sorgen haben. Dieser Austausch stabilisiert sie und die neuen Mädchen werden von den anderen herzlich empfangen und aufgenommen.
Wie sieht ein typischer Tag in der Kriseneinrichtung aus?
Team Papatya: Wir haben hier einen sehr strukturierten Alltag. Die Anonymität führt dazu, dass die Mädchen nicht mehr ihre alte Schule oder Ausbildung besuchen können. Daher verbringen sie oft viele Wochen oder sogar Monate in unserer Kriseneinrichtung. Je nach Gefährdungslage können die Mädchen auch raus und an den Wochenenden gibt es gemeinsame Ausflüge.
Um psychische Stabilität zu gewähren, ist eine klare Alltagsstruktur entscheidend. Wir haben festgelegte Aufweckzeiten, feste Zeiten für Frühstück, Mittag- und Abendessen sowie klar definierte Ausgangs-, Telefon- und Internetzeiten. Ein strukturierter Tagesablauf hilft den Mädchen, ein Gefühl von Normalität zu behalten.
„Sie haben psychische und physische Gewalt erlebt, einige auch sehr schwere Gewaltformen“
Gibt es neben Verschleppungsgefahr und drohender Zwangsverheiratung weitere Gründe, warum junge Frauen bei Ihnen Zuflucht suchen?
Team Papatya: Die große Mehrheit der Mädchen und jungen Frauen berichtet von sehr starker Kontrolle durch die Familie. Viele durften ausschließlich die Schule besuchen und mussten danach direkt nach Hause. Sie hatten keine Freiheiten in ihrer Freizeitgestaltung, durften keine Freundinnen treffen oder anderen Tätigkeiten nachgehen. Es geht also oft um eine starke Beschränkung der Freiheit, wie beispielsweise keine eigene Handy-Nutzung oder ständige Überwachung und Ortung.
Nahezu alle Mädchen und jungen Frauen, die zu uns kommen, zeigen eine sehr hohe psychische Belastung. Sie haben psychische und physische Gewalt erlebt, einige auch sehr schwere Gewaltformen. Diese Kontrolle und Gewalt sind zentrale Gründe, warum sie bei uns Schutz suchen.
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders nahe ging?
Team Papatya: Ja, da gibt es einen Fall, der uns besonders im Gedächtnis geblieben ist. Es handelt sich um eine 17-Jährige mit deutschem Pass. Sie hatte sich einige Monate vor ihrer Verschleppung in ein nordafrikanisches Land an das Jugendamt gewandt, weil ihr deutscher Freund herausgekommen war und sie daraufhin viel körperliche Gewalt erleben musste. Ihre Mutter drohte ihr mit einer Zwangsverheiratung. Aus Angst ließ sich das Mädchen vom Jugendamt in Obhut nehmen.
Die Eltern überzeugten das Jugendamt schließlich, dass sie ihre Fehler eingesehen hätten und alles besser werden würde. Das Mädchen, das natürlich hoffte, dass ihre Eltern sich verändert haben, ging zurück nach Hause. Kurz darauf schlugen die Eltern vor, einen Urlaub in der Türkei zu machen. Das Mädchen flog mit. Dort erfuhr sie, dass es angeblich Probleme gibt und sie weiterreisen müssen. Letztendlich landeten sie im Herkunftsland ihrer Familie, wo man der 17-Jährigen Handy und Papiere wegnahm. Sie wurde misshandelt und festgehalten.
Irgendwann konnte sie sich melden und berichtete von einem anstehenden Termin in der deutschen Botschaft. Wir bereiteten alles vor, in Kontakt mit dem Jugendamt und der Botschaft. Die Botschaft war bereit, das Mädchen zu separieren und auszufliegen. Doch leider flog unser Kontakt zwei Tage vor dem Termin auf. Wir bekamen eine Nachricht, angeblich von dem Mädchen, dass alles in Ordnung sei und sie keine Hilfe mehr benötige. Wir vermuteten natürlich, dass sie diese Nachricht nicht selbst geschrieben hatte.
Haben Sie je wieder von ihr gehört?
Team Papatya: Monate später meldete sie sich plötzlich erneut. Sie hatte sich auf der Straße ein Handy geborgt und schrieb, dass es erneut einen Termin in der Botschaft geben würde, weil die Familie sie verheiraten wollte. Mittlerweile war sie volljährig und benötigte nicht mehr die Zustimmung des Jugendamts. Die Familie ahnte nichts und flog mit ihr zum Botschaftstermin. Dort wurde sie schließlich separiert und ins Flugzeug gesetzt, sodass sie nach Deutschland zurückkehren konnte. Die ganze Geschichte hat sie fast ein Jahr ihres Lebens gekostet.
„Sie wissen, sie werden viel gewinnen, aber gleichzeitig auch viel verlieren“
Die extreme emotionale Belastung der jungen Frau ist schwer vorstellbar. Sie muss enorm gewesen sein.
Team Papatya: Natürlich. Sie wusste ja nie, ob ihr wirklich geholfen wird. Man darf nicht vergessen, dass diese Mädchen erleben, dass ihren Familien jedes Mittel recht ist, um die Ehre zu retten. Die Familie hatte fast ein Jahr lang alles gegeben, um die Situation aufrechtzuerhalten. Für das Mädchen bedeutet eine Flucht, danach keinen Kontakt mehr zur Familie zu haben und ständig in großer Angst zu leben: „Was, wenn sie mich finden?“
Wir können sagen, dass wir Schutz bieten, aber ob sie uns das glauben, ist eine andere Sache. Die Familien sagen oft: „Wir finden dich überall und du bist nirgendwo sicher.“ Mit dieser Angst müssen die Mädchen leben und das Risiko einer Flucht eingehen, ohne vorher eine Garantie zu haben. Es ist immer eine große Ambivalenz im Spiel: Sie wissen, sie werden viel gewinnen, aber gleichzeitig auch viel verlieren.
Gibt es Fälle, bei denen mit ihrer Mithilfe Verschleppungen ins Ausland verhindert werden konnten?
Team Papatya: Es kommt manchmal vor, dass sich Mädchen oder junge Frauen glücklicherweise vor einer konkret drohenden Verschleppung melden. Das passiert dann, wenn sie konkrete Anhaltspunkte haben, dass ihnen im Ausland eine Zwangsverheiratung droht.
In einem konkreten Fall erhielten wir aus einem anderen Bundesland die Anfrage, ob wir ein Mädchen aufnehmen könnten, da die Flüge in das Herkunftsland der Eltern in der nächsten Woche gehen sollten. Dort war einige Monate später eine Zwangsverheiratung geplant. Wir konnten sie kurzfristig in unserer Kriseneinrichtung aufnehmen und somit davor bewahren. Nach dem Aufenthalt bei uns konnte sie in einer betreuten Wohngemeinschaft ein neues Leben starten. Selbst wenn wir voll gewesen wären, hätten wir sie an andere Partnerprojekte im Bundesgebiet vermittelt.
Auf unserer Website (Anm. d. Red.: oben im Text verlinkt) geben wir präventive Tipps, wie sich Mädchen notfalls noch am Flughafen gegen eine Verschleppung wehren können. Das kommt allerdings sehr selten vor.
Der Löffel in der Unterhose: „Hat mit der Realität nicht so viel zu tun“
In der Presse wird in diesem Zusammenhang immer wieder über Löffel berichtet, die sich Betroffene in die Unterhose stecken sollen, um am Flughafen den Metalldetektor auszulösen, um von ihrer Familie getrennt zu werden. Was halten Sie davon?
Team Papatya: Ehrlich gesagt, hat das mit der Realität nicht so viel zu tun. Das sind eher schöne Aufhänger für die Presse. Es ist verständlich, dass solche Geschichten Aufmerksamkeit erregen, aber unsere Arbeit geht viel tiefer. Wir sind sehr stolz auf unsere Arbeit zum Thema Verschleppung, die wir seit 2013 intensiv betreiben. Damals gab es für dieses Phänomen noch nicht einmal einen richtigen Namen im deutschsprachigen Bereich. Durch Zusammenarbeit mit anderen EU-Ländern und Projekten haben wir unser eigenes Framing gefunden und viel erreicht. Heute spricht man über das Thema.
Aber es gibt noch viel zu tun?
Team Papatya: Wir sehen bei der Prävention noch sehr viel Arbeit. Die meisten Anfragen zum Thema Verschleppung erreichen uns, wenn die Verschleppung bereits passiert ist. Es ist selten, dass Betroffene im Vorfeld erkennen, was auf sie zukommt. Oft wissen sie nicht zu 100 Prozent, dass die Familie sie wirklich im Ausland zurücklassen will. Wenn wir Mädchen vor einer Verschleppung aufnehmen, ist das meist im Kontext einer konkret drohenden Zwangsverheiratung. Beispielsweise, wenn sie schon mit dem zukünftigen Ehemann im anderen Land skypen oder chatten müssen und genau wissen, dass sie bei der Reise verheiratet werden sollen. Bei weniger konkreten Anlässen, wie einem angeblichen Urlaub oder einem angeblich erkrankten Familienmitglied, sind die Betroffenen oft im Unklaren. Daher ist viel Aufklärungsarbeit nötig, auch bei den Betroffenen selbst.
Wie schwierig ist es, Mädchen nach einer Verschleppung nach Deutschland zurückzuholen?
Team Papatya: Man kann sich kaum vorstellen, wie gering die Chancen sind, ein minderjähriges Mädchen ohne deutschen Pass zurückzuholen. Die betroffenen Mädchen selbst sind oft naiv und glauben, dass das Jugendamt schon kommen und sie abholen wird. Viele willigen in Reisen ein, weil ihnen etwas vorgespielt wird. Die Mädchen hungern nach Aufmerksamkeit und Liebe von ihren Eltern, weil sie oft in dysfunktionalen Familien aufwachsen, in denen sie nicht genug gesehen werden. Das macht sie empfänglich für diese Versprechungen.
„Doppelstaatsbürgerschaft interessiert die ausländischen Behörden überhaupt nicht“
Helfen Doppelstaatsbürgerschaften, verschleppte Mädchen zurückzuholen?
Team Papatya: Selbst bei Doppelstaatsbürgerschaften bleibt es schwierig, weil sogar die deutschen Behörden in solchen Fällen nicht so leicht tätig werden können. Das Auswärtige Amt hat uns erklärt, dass es besonders in Ländern problematisch ist, bei denen die Tochter trotz deutschem Pass als Staatsangehörige des anderen Landes gilt.
Wie meinen Sie das?
Team Papatya: In manchen Ländern gibt es die Regel, dass jemand, der einen ausländischen Vater hat, auch als Staatsangehörige gilt. Das heißt: Das Mädchen ist dann eine Libanesin oder eine Irakerin, auch wenn sie einen deutschen Pass hat. Die Doppelstaatsbürgerschaft interessiert die ausländischen Behörden überhaupt nicht. Die deutschen Behörden sind da oft machtlos. Minderjährige können dann kaum zurückgeholt werden, wenn die Eltern das nicht wollen.
Und aufgrund dieser Schwierigkeiten setzen Sie bereits in den Schulen an …
Team Papatya: Es ist wichtig, auf die Risikofaktoren hinzuweisen, wie zum Beispiel einen vorherigen Aufenthalt in der Jugendhilfe. Solche Mädchen sind wegen des vermeintlichen Ehrverlustes besonders gefährdet. Man muss Jugendämter und Schulen sensibilisieren, damit sie nicht einfach Schulabmeldungen akzeptieren, sondern genauer nachfragen und den Eltern das Vorhaben erschweren. Es ist wichtig, den Betroffenen klarzumachen, dass z.B. eine bloße Kopie des Passes nichts nützt, wenn die Eltern sie im Ausland festhalten wollen. Bis zum 18. Lebensjahr gibt es kaum Möglichkeiten zur Rückkehr ohne die Zustimmung der Eltern.
Bei Volljährigen haben Sie mehr Möglichkeiten?
Team Papatya: Bei Volljährigen mit deutschem Pass können wir mehr tun, auch finanziell unterstützen. Aber es gibt Fälle, in denen uns die Hände gebunden sind. Manchmal sind die Betroffenen in Regionen, in denen Frauen sich kaum frei bewegen können oder die Landessprache nicht beherrschen. Lokale Hilfsprojekte sind da zwar eine Möglichkeit, aber auch das gestaltet sich schwierig.
„Wer einmal verschleppt wurde, kehrt in der Regel nicht zur Familie zurück“
Haben Sie schon einmal Fälle erlebt, in denen eine Versöhnung mit der Familie möglich war?
Team Papatya: Wer einmal ins Ausland verschleppt wurde, kehrt in der Regel nicht zur Familie zurück. Nach einer Rückholung mit viel Aufwand gehen sie meist in ein anonymes Projekt und werden dort betreut. Aber es gibt durchaus viele Fälle von Mädchen, die aus unserer Kriseneinrichtung zurück zur Familie gehen. Die Familien üben oft viel Druck aus und machen über das Jugendamt Versprechungen. Die Betroffenen glauben den Versprechungen und hoffen auf eine positive Veränderung ihrer Situation. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Mädchen gibt ihren Eltern noch eine Chance.
Kommt es dann auch zu einer positiven Veränderung?
Team Papatya: Das erfordert einen größeren zeitlichen Abstand. Wenn eine Situation so eskaliert ist, dass ein Mädchen fliehen muss und zu uns kommt, ist nach zwei Wochen nicht alles wieder gut. Es gibt aber Fälle, in denen die Mädchen in der Jugendhilfe betreut und gestärkt werden und dann - teils Jahre später - wieder Kontakt zur Familie aufnehmen.
Mindestens die Hälfte dieser Fälle zeigt, dass es irgendwann wieder Kontakt zur Familie gibt, oft über die Mutter oder Schwester. In vielen Fällen erfolgt dann regelmäßiger Kontakt und eine langsame Akzeptanz des neuen Lebens. Das erfordert jedoch viel Zeit zur Reflexion und oft auch Therapie, um die eigene Position den Eltern gegenüber vertreten zu können. Nicht jede Familie ist bereit, ihre Denkweisen zu hinterfragen.
Aber es gibt auch positive Beispiele. Eine junge Frau, die im Zeugenschutzprogramm der Polizei war und lange anonym in der Jugendhilfe lebte, nahm irgendwann wieder Kontakt zur Familie auf. Ihr Vater sagte schließlich: „Was habe ich mir eigentlich gedacht? Wir haben euch nach Deutschland gebracht und gehofft, ihr würdet die Kultur nicht annehmen. Das war ein großer Fehler von mir.“ Er akzeptierte schließlich den Freund seiner Tochter, der später ihr Ehemann wurde, und meinte: „Er ist mir lieber als mein eigener Sohn.“