Diabetes, die vernachlässigte Volkskrankheit

Lebenslanges Spritzen: Typ-1-Diabetiker brauchen täglich Insulin. (Bild: thinkstock)
Lebenslanges Spritzen: Typ-1-Diabetiker brauchen täglich Insulin. (Bild: thinkstock)

Mit jedem Schluck Cola wächst das Risiko, an Diabetes zu erkranken. Wenig Bewegung, schlechte Ernährung und die Gene tun ihr Übriges. Diabetes ist längst ein weltweites Problem. In Deutschland leiden mehr als sechs Millionen Menschen an der Stoffwechselkrankheit. Galt die Zuckerkrankheit lange als Alte-Leute-Leiden, sind heute immer mehr Kinder und Jugendliche betroffen - teilweise mit lebensbedrohlichen Folgen. Der Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft warnt: Die Behandlungskosten fressen das Gesundheitssystem auf. Yahoo! klärt auf über eine vernachlässigte Krankheit und wie man sie verhindern kann.

25 Milliarden Euro kostet die Behandlung von Diabetes das deutsche Gesundheitswesen im Jahr. Hinzu kommen 13 Milliarden indirekte Kosten wie beispielsweise für Hartz IV, wenn ein Erkrankter nicht mehr arbeiten kann. Zum Vergleich: Der Etat des Gesundheitsministeriums beträgt in diesem Jahr zwölf Milliarden Euro. „Das Gesundheitssystem wird künftig nur durch diese eine Krankheit aufgebraucht sein“, warnt Erhard Siegel, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) im Gespräch mit Yahoo! Nachrichten. „Diabetes wird ein großes gesellschaftliches Problem.“

Die Zahlen des Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2013 sind erschreckend. Mehr als sechs Millionen Deutsche sind erkrankt, davon 90 Prozent an einem Typ-2-Diabetes und 300.000 Menschen an Typ-1-Diabetes. Unter den Erkrankten sind mehr als 25.000 Kinder. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer. Die Vereinten Nationen schätzen, dass die Zahl der 250 Millionen weltweit betroffenen Menschen bis zum Jahr 2025 auf 380 Millionen ansteigen wird. Der Staatenbund hat Diabetes zu einer globalen Bedrohung der Menschheit erklärt. Doch wie konnte es dazu kommen? „Der Lebensstil hat sich drastisch verändert“, sagt Siegel. Zu wenig Bewegung, zu viel und zu schlechtes Essen und neue Umweltfaktoren.

Lebensgefährliche Folgekrankheiten

Diabetes Mellitus ist der Begriff für eine Gruppe von Stoffwechselkrankheiten, bei denen das Blut überzuckert ist. Die meisten Betroffenen leiden an zwei Arten. Typ-1-Diabetes ist eine unheilbare Autoimmunerkrankung, bei der die Bauchspeicheldrüse zerstört und kein lebenswichtiges Insulin mehr produziert wird. Betroffene müssen bis zu sieben Mal am Tag den Blutzuckerspiegel messen und bis zu fünf Mal täglich Insulin spritzen.

Folgeerkrankungen wie Schlaganfall, Erblindung, Nervenschädigung und Demenz können die Lebenserwartung um bis zu 15 Jahre senken oder wie bei einem Herzinfarkt gleich tödlich sein, erklärt Erhard Siegel. Schuld an dieser Verwirrung des Immunsystems sind vermutlich bestimmte Genkonstellationen sowie ein durch Infektionen in die Irre geführtes Immunsystem.

Am weitesten verbreitet ist jedoch Typ-2-Diabetes. Dabei entwickeln die Körperzellen eine Insulinresistenz, bis Insulin schließlich gar nicht mehr wirkt und der Blutzuckerspiegel drastisch ansteigt. Das Problem: Während bei Typ-1-Diabetes nach wenigen Wochen Symptome wie starker Durst, häufiges Wasserlassen, Gewichtsverlust und Erbrechen auftreten und die Krankheit behandelt werden kann, macht sich Typ-2-Diabetes kaum bemerkbar und wird deswegen meist erst nach vielen Jahren festgestellt.

Wer wissen will, ob er gefährdet ist, kann sich beim Arzt durchchecken lassen. „In gewissem Maße kann man die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf Jahren an Typ-2-Diabetes zu erkranken, feststellen“, so Siegel. Die Mediziner überprüfen dann Faktoren wie Familie, Ernährung, Bauchfett, Sport und Rauchen. Zu wenig Bewegung und eine ungesunde Ernährung sind neben nicht oder kaum beeinflussbaren Faktoren wie Genen und der Umwelt ausschlaggebend für eine Erkankung an Typ-2-Diabetes. Das Gute: Kranke können sich heilen, Gefährdete die Prognose abwenden. „Ein gesunder Lebensstil kann das Auftreten von Typ-2-Diabetes ganz verhindern oder verschieben“, so Siegel. Statt mit 40 Jahren könnte die Krankheit dann erst mit 70 Jahren auftreten. Oder eben gar nicht.

Kinder leiden – im Alltag und im ganzen Leben

Zu wenig Bewegung und schlechte Ernährung begünstigen Typ-2-Diabetes bereits im jungen Alter. (Bild: thinkstock)
Zu wenig Bewegung und schlechte Ernährung begünstigen Typ-2-Diabetes bereits im jungen Alter. (Bild: thinkstock)

Besonders dramatisch ist die Krankheit bei Kindern. Hier dominiert Typ-1-Diabetes, das in jungen Jahren lebensbedrohlich ist. Etwa 25.000 Kinder und Jugendliche zwischen null und 19 Jahren haben diesen Typus. „Die Krankheit bedeutet für die Kinder eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität“, sagt DDG-Präsident Siegel. Sie müssen sich mehrmals am Tag Insulin spritzen, um den Blutzuckerspiegel zu senken. Dazu sind Verständnis für die Krankheit und Disziplin nötig.

Zusätzlich leiden Kinder psychisch, da sie von ihrer Umgebung häufig anders behandelt werden als gesunde Kinder und dementsprechende soziale Probleme entwickeln. Im späteren Leben können die gefährlichen Folgekomplikationen auftreten. An Typ-2-Diabetes Erkrankte leiden meistens sowieso aufgrund des Übergewichts und werden gehänselt. Diabetes ist im Kindes- und Jugendalter eine der häufigsten chronischen Erkrankungen. Bei beiden Arten steigt die Anzahl der Betroffenen, weil die Kinder immer dicker geworden sind und weil die Erkrankung in den Genen lauert. Während Typ 1 nicht heilbar ist, gelten bei Typ 2 dieselben Regeln wie bei Erwachsenen: Gesund essen, Sport treiben und die Krankheit so in Schach halten.

Mediziner fordern eine nationale Strategie

Die Forschung hat noch keine Wundermittel hervorgezaubert. Die Kinder von an Typ-1-Diabetes erkrankten Familienmitgliedern können mit einem speziellen Test erkennen, ob sie selbst einmal Diabetes bekommen werden. Ein neuer Gentest kann das Risiko bereits im Säuglingsalter abschätzen. Das Ausbrechen kann allerdings nicht verhindert werden. Eine Impfung wird noch bei Tieren getestet. Die Zukunft bei Typ-1-Diabetes sieht Siegel in der Transplantation von Stammzellen.

Um die Ausbreitung von Zucker in den Griff zu bekommen, fordern Mediziner wie DDG-Chef Siegel zu allererst eine nationale Diabates-Strategie, wie sie andere EU-Länder bereits besitzen. „Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung“, mahnt Siegel. „Eine Präventionsstrategie fehlt komplett.“ Bereits in Kindergärten und Schulen müsste aufgeklärt werden über Sport und gesundes Essen.

Zusätzlich müssten aufgrund der unterschiedlichen regionalen Ausprägungen auf die jeweilige Region zugeschnittene Strategien entwickelt werden. In einem Diabetes-Register, so Siegel, sollten sämtliche Erkrankten erfasst werden. So erhalte man Informationen zur Verbreitung und Folgekomplikationen. Darauf aufbauend könne dann Versorgungsforschung betrieben werden. Erwachsenen ab 35 Jahren rät Siegel zu regelmäßigen Risiko-Checks beim Arzt.