Das 100 Jahre alte Rätsel um den Everest

George Mallorys Tod am Mount Everest steht in seiner Heimat als
George Mallorys Tod am Mount Everest steht in seiner Heimat als "victorious disaster" in einer Reihe mit heroischen Pleiten. Die entscheidende Frage aber ist auch 100 Jahre später nicht geklärt. (Bild: dpa)

Wohl selten hat jemand die Jagd der Menschen nach Rekorden so simpel zusammengefasst wie George Mallory. Warum er denn den Mount Everest mit seinen knapp 8849 Metern bezwingen wolle, wird der britische Bergsteiger einmal gefragt. Die Antwort: "Because it is there", weil er da ist. Drei Anläufe unternimmt Mallory in den 1920er Jahren am höchsten Berg der Erde - rund 30 Jahre vor Edmund Hillary und Tenzing Norgay, die schließlich als Erstbesteiger in die Geschichte eingehen. Seinen Ehrgeiz bezahlt Mallory mit seinem Leben.

Kurz reißt die Wolkendecke auf und gibt den Blick auf den Gipfel frei, da sieht Expeditionsmitglied Noel Odell zwei schwarze Punkte, die sich am Grat bewegen. Es sind, da ist sich Odell später sicher, Mallory und sein Bergpartner Andrew "Sandy" Irvine. Am 8. Juni ist es 100 Jahre her, dass der vielleicht bekannteste Bergsteiger seiner Generation zum letzten Mal lebend gesehen wurde.

In seiner Heimat gehört Mallorys Expedition in eine Reihe mit anderen "victorious disaster" der britischen Geschichte. Die Niederlage von Robert Falcon Scott im Wettlauf gegen Roald Amundsen zum Südpol gehört dazu, oder auch der Rückzug Hunderttausender britischer Soldaten aus Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg. "Die Briten genießen ihre heroischen Niederlagen in Krieg und Abenteuer fast ebenso sehr wie ihre Siege", kommentiert die Zeitung "Financial Times".

Mallorys "Weil er da ist"-Ansatz inspiriere nicht nur die nostalgischen Briten, sondern jeden, der sich für menschliche Leistungen interessiert, schreibt das Blatt. Anthony Harrison von der George Mallory Foundation betont, der Bergsteiger sei ein Beispiel dafür, dass alles möglich sei. Das berühmte Zitat habe Jahrzehnte später sogar US-Präsident John F. Kennedy zu seiner Rede zum Wettlauf ins All animiert.

Expeditionen wie von Mallory oder Hillary und vom Südtiroler Reinhold Messner, der 1978 als Erster ohne Sauerstoff den Everest besteigt, sind mit dem heutigen Andrang nicht vergleichbar. Teilweise kommt es zu Staus, so viele Menschen wollen zur gleichen Zeit den höchsten Selfie-Punkt der Welt erklimmen. Die lange Wartezeit in der sogenannten Todeszone über 8000 Metern, wo man sich wegen des geringen Sauerstoffgehalts nur möglichst kurz aufhalten sollte, ist ein Grund für schwere Verletzungen und Todesfälle.

Heute schaffen es - vor allem dank großer Unterstützung von Sherpas, den einheimischen Bergführern - jedes Jahr 300 bis 400 Ausländerinnen und Ausländer dorthin. Es sind Abenteurer, Monarchen, Milliardäre und Rekordjäger. Ein 80-jähriger Japaner, ein 13-jähriger Amerikaner und mehrere amputierte sowie blinde Menschen waren schon dort. Nach Angaben des Expeditionsarchivs "Himalayan Database" standen bisher mehr als 6600 Menschen insgesamt 12.000 Mal auf dem Gipfel. Sie hinterlassen kaputte Zelte, leere Sauerstoffflaschen, Essensverpackungen und anderen Abfall, der dem Berg traurige Berühmtheit als höchstgelegene Müllhalde der Erde verschafft hat.

All-Inclusive-Reisen zum Dach der Welt kosten in der Regel 50.000 bis 100.000 Euro pro Person. In den Pauschalangeboten inbegriffen sind Ausrüstung, Sauerstoffflaschen und ein Sherpa-Team, das die Route entlangführt, Gepäck trägt und kocht. Im Basislager gibt es Internetverbindung und bei Interesse auch Gourmetküche.

Doch bei allem Luxus bleibt ein großes Risiko. Mehr als 300 Menschen sind nach Daten von "Himalayan Database" bislang auf dem Berg gestorben - mehr als ein Drittel davon Sherpas. Weil es teuer, aufwendig und gefährlich ist, sind Dutzende Leichen bis heute nicht vom Everest geborgen worden. Wer nach oben will, muss an Toten vorbei. Manche Körper dienen sogar als eine Art makabrer Wegweiser.

Bis Mallorys Leiche gefunden wird, dauert es Jahrzehnte. Erst 1999, vor 25 Jahren, hat eine Suchexpedition endlich Erfolg. Die Hoffnung, dass die sterblichen Überreste des Briten eines der größten Rätsel der Bergsteigerwelt lösen, erfüllt sich nicht. Haben es die beiden Briten 1924 auf den Gipfel geschafft? Befürworter führen unter anderem als Grund an, dass bei Mallorys Leiche das Foto seiner Ehefrau Ruth gefehlt habe, das er am Gipfel deponieren wollte.

Wie eng sich das Paar war, das drei Kinder hatte, zeigen Briefe, die Forscher der Universität Cambridge zum 100. Jahrestag veröffentlicht haben. Und sie spiegeln auch die Gefahr wider, der sich Mallory bewusst war. "Die Kerze erlischt, und ich muss aufhören", heißt es in seinem letzten Brief an Ruth. "Es steht 50 zu 1 gegen uns, aber wir werden uns noch durchsetzen und stolz auf uns sein."

Schon bei ihren Kameraden waren die Meinungen zu einem möglichen Gipfelerfolg geteilt. Beobachter Odell glaubt durchaus, dass die Briten es geschafft hätten. Sein de-facto-Expeditionsleiter Edward Norton hingegen ist skeptisch. Bergsteiger-Legende Messner, der wenige Monate nach dem Leichenfund mit "Mallorys zweiter Tod" ein Buch über den gelernten Lehrer veröffentlicht, hat schon damals eine klare Meinung: "Es ist eindeutig, dass er gescheitert ist." Für ihn ist entscheidend, dass Mallory und Irvines Kleidung und Schuhwerk für die schwierige Passage vor dem Gipfel völlig ungeeignet gewesen seien.

Klärung erhofft man sich von Mallorys Kamera. Gibt es ein Gipfelfoto? Doch die wird ebenso nie gefunden wie Irvines Leiche. Ob das Rätsel noch gelöst wird? Auch Mallorys Körper ist mittlerweile offenbar vom Everest verschwunden.

Der Verdacht: China könnte die Leichen in den Abgrund gestürzt haben, wie die Zeitung "Guardian" schreibt. Als möglicher Grund gilt, dass die kommunistische Führung den Eindruck verhindern wollte, die Briten hätten es über die chinesische Seite des Bergs auf den Gipfel geschafft, bevor einem chinesischen Team diese Route gelang. Das war 1960 ein Propagandaerfolg. Hillary und Norgay waren 1953 über die nepalesische Seite aufgestiegen. Auf den Berg, der halt da ist.