Amoktat von München: Warum Medien zurückhaltend über Angehörige der Opfer berichten sollten

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Etwas unterschied den ARD-Brennpunkt am Samstagabend von anderen Sendungen zu diesem Thema. Gleich zu Beginn sagte Moderator Sigmund Gottlieb: „Für die Angehörigen ist das Motiv völlig gleichgültig.“ Nach zwei Filmbeiträgen wiederholte Gottlieb diese Aussage leicht abgewandelt. „Auch wenn es bei Sicherheitsbehörden und Politik für gewisse Erleichterung gesorgt haben dürfte, dass es für die Tat keinen terroristischen Hintergrund gibt – den Schmerz der betroffenen Familien lindert diese Erkenntnis nicht“, so der ARD-Mann.

Man kann davon ausgehen, dass sich ein erfahrener Journalist wie Gottlieb nicht zufällig wiederholt. Bewusst rückte er die Opfer und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt, vermittelte ihnen: Wir fühlen mit euch. Wir wissen um euer Leid und das ist wichtiger, als alle Details zur Tat, die wir in den kommenden Tagen noch erfahren werden. Eine gute Geste.

Medien interessierten sich vor allem für die Täter, hört man häufig von Opferschutzorganisationen. Nachvollziehbar, wenn dem so wäre. Menschen wollen wissen, warum Menschen andere Menschen töten. Meist in der Hoffnung, mögliche Signale beim nächsten Mal zu erkennen und eine ähnliche Schreckenstat zu verhindern. Tatsächlich stimmt diese These nicht. Medien berichten auch über die Opfer von Verbrechen – oft allerdings wenig zurückhaltend.

Als Tim K. 2009 beim Amoklauf in Winnenden 15 Menschen und sich selbst tötete, belagerten schon kurz danach hunderte Reporter, Fotografen und Kamerateams den kleinen Ort bei Stuttgart. Journalisten suchten Fotos von möglichen Opfern, klingelten bei Angehörigen. Manche Medienvertreter verwechselten das Verbrechen mit einem Event. So kommentierte eine RTL-Reporterin während einer Live-Schaltung: „Es ist Wahnsinn, hier blinken die Lichter, es ist Chaos vom Feinsten.“ Eine Mutter, die in Winnenden ihre Tochter verloren hat, musste einen Tag nach der Tat ein halbseitiges Foto ihres Kindes in einer Zeitung sehen. Veröffentlicht ohne ihre Zustimmung. „Ich war restlos überfordert“, sagte sie Jahre später.

Winnenden ist nicht die einzige Tragödie, bei der sich Journalisten nicht mit Ruhm bekleckert haben. Nach der Brandkatastrophe in einer Behindertenwerkstatt in der Schwarzwaldgemeinde Titisee-Neustadt 2012, bei der 14 Menschen starben, belagerte ein TV-Team den Gehweg vor der Werkstatt, wo Angehörige Blumen niedergelegt hatten. Jeder, der sich näherte, wurde gefragt, ob er einen der Toten kenne und dabei ungefragt gefilmt.

Bei der Beerdigung von Tuğçe Albayrak, einer jungen Frau, die 2014 im hessischen Offenbach starb, weil sie zwei Mädchen geholfen hatte, die von Männern belästigt wurden, hatten die Angehörigen eindringlich darum gebeten, auf dem Friedhof nicht zu fotografieren. Als Tuğçes Sarg zu Grab getragen wurde, blitzten dennoch dutzende Kameras von Pressefotografen.

Wo ist der vielbeschworene Erkenntnisgewinn, wenn Journalisten Trauernde vor Kameras, Objektive und Mikrofone zerren? Jeder Mensch mit einem Hauch Mitgefühl kann auch ohne Bilder nachvollziehen, was Freunde und Familienmitglieder durchmachen.

Psychologen warnen, dass Opferangehörige nach Schicksalsschlägen anfangs nicht in der Lage seien, die Konsequenzen einer Berichterstattung abzuschätzen. Die Kriminalpsychologin Ursula Gasch, die mit traumatisierten Menschen arbeitet, empfiehlt Journalisten, mindestens vier Wochen zu warten, bevor sie Opferangehörige kontaktieren. Sicher: Eine Zumutung für all jene, die aktuell informieren wollen. Aber bis zu vier Wochen kann eine akute Belastungsreaktion dauern. Manche schaffen es, in dieser Zeit ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Jedoch nur, wenn sie die Ereignisse ohne störenden Einfluss von außen verarbeiten können, wenn sie psychologisch betreut oder von einem Anwalt beraten werden.

Einige Leidtragende erholen sich nie. Wenn aus der akuten Belastungsreaktion eine posttraumatische Belastungsstörung wird, sollten Medien grundsätzlich von Anfragen absehen. Denn selbst Jahre später – wenn Journalisten an Jahrestagen Interviewanfragen stellen oder erneut über die Täter berichten – können Hinterbliebene re-traumatisiert werden.

Nach dem Amoklauf von Winnenden leitete der Deutsche Presserat 47 Beschwerdeverfahren gegen diverse Medien ein. So wurde das Onlineportal bild.de für einen Beitrag mit der Überschrift: „Diese jungen Leben hat er ausgelöscht“ gerügt. Im Artikel wurden die vollen Namen mehrerer Opfer genannt – ein Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen und Angehörigen.

Am Samstagabend, nur einen Tag nach dem Amoklauf von München, veröffentlichte bild.de unter der Schlagzeile „Das sind die Opfer des Amoklaufs“ kaum verpixelte Fotos und teilweise vollständige Namen der zumeist minderjährigen Opfer. Manche Medien haben nach Winnenden nichts dazugelernt. (Autor: Frank Brunner)

Foto: Sven Hoppe/dpa

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