Analyse von Hans-Jürgen Moritz - Proteste bestärken die AfD in ihrer ganz eigenen Realitäts-Wahrnehmung

AfD-Parteitag in Essen: Voller Genugtuung berichtete die Parteispitze über die Ergebnisse der Europawahl<span class="copyright">IMAGO/DeFodi</span>
AfD-Parteitag in Essen: Voller Genugtuung berichtete die Parteispitze über die Ergebnisse der EuropawahlIMAGO/DeFodi

Die AfD präsentierte sich bei ihrem Essener Parteitag mit ungewohnter Harmonie, aber großer Lautstärke. Die Wahlergebnisse stimmen, das Feindbild ist gefestigt: Die Partei hält sich für zunehmend unersetzlich. Eine Analyse.

Druck von außen schweißt zusammen. Insofern konnten die Gegendemonstranten der Wagenburg-Mentalität in der AfD keinen größeren Gefallen tun, als den Parteitag der Alternative für Deutschland in der Essener Grugahalle johlend zu belagern.

Wahlergebnisse als Mandat zur Deutschlandrettung interpretiert

Für die Delegierten stellten sich die Blockadeaktionen als Werk von Horden dar, die ihre persönliche Realitäts-Wahrnehmung voll bestätigten: Als letzte deutsche Tugendwächter halten sie sich für umzingelt von „Deutschland-Abschaffern”, denen es in den Arm zu fallen gilt, um das Land vor dem Untergang zu bewahren.

Da die AfD ihre jüngsten Wahlerfolge als Mandat zur Deutschland- Rettung interpretiert, ist von ihr vermutlich keine Mäßigung zu erwarten, eher weitere Radikalisierung. Sprachlich gedieh diese auf dem Parteitag bereits.

Land der Frühabschieber” und Ruf nach „Migrationswende”

Ein Delegierter aus Sachsen-Anhalt stellte sein Bundesland als „Land der Frühaufsteher und Frühabschieber” dar. Andere sahen ein “rot-grünes Narrenschiff” durch die „überglobalisierte” Republik segeln. Die Partei-Co-Vorsitzende Alice Weidel strich die Ukraine kurzerhand von der Landkarte, denn sie gehöre nicht zur EU und auch nicht zu Europa. Sie sprach sich außerdem für eine „Migrationswende” aus.

Die beiden Vorsitzenden feuerten Breitseiten auf die bösen Journalisten ab (Weidel: „Orkan der Medien”; Tino Chrupalla: „beispiellose Kampagne”), die man im Parteitagssaal strikt von den Delegierten schied. Weidels Kritik an der Unterstützung der Bundesregierung für die Ukraine gipfelte in der Frage: „Wie viele der Herren Ampelminister haben eigentlich gedient?”

Chrupalla will keine „Melonisierung” der Partei

Einen selbstbewussten, herausfordernden Ton schlug die AfD auf ihrem Parteitag auch mit Blick auf die europäische Bühne an. Chrupalla zog eine Trennungslinie zur italienischen Rechtspopulistin Giorgia Meloni: Es werde keine „Melonisierung” seiner Partei geben. Weidel forderte für die AfD einen „respektvollen Umgang auf Augenhöhe” in Brüssel ein.

Die Co-Vorsitzende betonte die Nähe zur österreichischen FPÖ, die sich anschickt, zusammen mit der Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und der tschechischen Partei ANO eine neue rechtsgerichtete Fraktion im Europäischen Parlament zu gründen. Die AfD, so war auf dem Parteitag zu hören, war in diese Vorbereitungen nicht eingebunden. Chrupalla sagte: „Wir wollen nicht bloß abwarten, was andere machen.” Eine eigene Gründungsinitiative der AfD scheint nicht ausgeschlossen.

Entscheidung über Generalsekretär verschoben

Parteitage sind selten Gelegenheiten, das Büßergewand anzulegen. Der in Essen geriet zu einem besonders schlagenden Beispiel für diese Wahrheit. Die Parole lautete: weiter so - und keine Experimente. Deshalb wurde die Entscheidung darüber, ob man sich wie andere Parteien einen Generalsekretär zulegen will, erst einmal verschoben.

Die AfD hat sich zu einer verschworenen Gemeinschaft mit solidem Feindbild entwickelt, die nach außen das Bild der Geschlossenheit vermitteln will. Kaum eine Spur ist noch übrig von der früheren Partei der notorischen Rechthaber und genüsslichen Querulanten, die einander mit Ehrenhändeln überzogen. Weidel verriet, es sei mit Mediatoren gearbeitet worden, um neue Wege der internen Konfliktbewältigung zu entwickeln.

Manches lieber nicht erwähnen und keine Angriffspunkte bieten

Nur in den langwierigen Beratungen über die Neubesetzung des Bundesschiedsgerichts der Partei schimmerten persönliche Querelen noch einmal durch. Ansonsten galt aber, was in dieser Debatte als Devise ausgegeben wurde: „Manchmal ist es besser, manche Dinge nicht zu erwähnen.”

Ein Parteitagsdelegierter hielt eine einleuchtende Erklärung für die ungewohnte Unaufgeregtheit parat: „Vor den nächsten Wahlen halten sich alle bedeckt. Man will keine Angriffspunkte bieten und die Schuld dafür bekommen, wenn noch etwas schiefgeht.” Für die Vorsitzende der parteinahen Erasmus-Stiftung, Erika Steinbach, war die mangelnde Neigung zum Raufen hingegen ein Zeichen dafür, „dass die AfD erwachsen wird” - auch wenn elf Jahre für eine Partei „noch kein Alter” seien. In diesem Alter, so möchte man hinzufügen, befinden sich Heranwachsende normalerweise in den Flegeljahren.