Angst vor Verfolgung – Russische Propaganda bringt Kritiker zum Schweigen
Aggressiv, ungerechtfertigt und verbunden mit vielen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So wird der Krieg in der Ukraine im Westen wahrgenommen.Diese oder eine ähnliche Sicht hatten anfangs auch einige Menschen in Russland. Sie demonstrierten und bekamen dafür viel Aufmerksamkeit. Doch dann wurden die Proteste immer weniger.
Dass die sogenannte "Spezialoperation" ein Kampf gegen den kollektiven Westen ist, diesen Eindruck möchte die staatliche russische Propaganda vermitteln. Ein Großteil der Russinnen und Russen scheint dafür empfänglich sein – trotz der Erfahrungen aus der Sowjetzeit.
Evgeniya Pyatovskaja ist Doktorandin an der University of South Florida. Sie sagt: "Die Sowjetzeit hat enorm dazu beigetragen, den Menschen nicht zu vermitteln, wie man für sich selbst denkt und Dinge hinterfragt. Die Menschen hatten keine Gelegeneit zu lernen, wie sie kritische Denker werden, wie man selbständig denkt. Sie hatten keine Chance zu begreifen, dass man Machthaber hinterfragen kann und dass das normal ist."
Zudem gibt es zwischen der aktuellen russischen Propaganda und der früheren sowjetischen deutliche Unterschiede. Obwohl momentan sehr viele traditionelle Begriffe und Vorstellungen Verwendung fänden, sei der technische Ansatz völlig anders, sagen Wissenschaftler. Erfahrungen mit sowjetischer Propaganda helfen demnach nicht automatisch die aktuelle Propaganda zu entlarven.
Die moderne Propaganda in Russland sei in vielerlei Hinsicht effektiver als die sowjetische Propaganda, erklärt Anton Shirikov, Politikwissenschaftler an der Columbia University. Sie berücksichtige unter anderem, dass die Menschen Informationen aus verschiedenen Quellen erhalten können. "Und sie versucht, ein Bild zu vermitteln, das nicht unbedingt den Behörden nützt, sondern dem, was sich die Bürger selbst wünschen."
Zwei schwere Enttäuschungen in kurzer Zeit haben die hartnäckige Abneigung der russischen Bürger gegenüber politischen Zugehörigkeiten geprägt: zuerst im sowjetischen Regime und dann in der sogenannten "Demokratie" in Russland in den 1990er Jahren.
Fachleute halten es für möglich ist, dass viele Russen zwar nicht auf die Propaganda hereinfallen und den Krieg nicht unterstützen, aber einfach Angst haben, über ihre Haltung und ihre Gefühle zu sprechen aus Furcht vor Repressionen und Verfolgung.
Diese Menschen gehen nicht nicht nur auf Distanz zur Regierung, sondern leben auch in einer Parallelwelt. Und so scheint der von der russischen Führung entfachte Krieg "parallel" zu ihrem Leben abzulaufen – so lange er sie und ihre Familien nicht direkt betrifft, erklärt Shirikov: "Es scheint so zu sein, dass ein erheblicher Teil der Bürger – die Mehrheit oder nicht, schwer zu sagen – keinen Krieg will. Aber gleichzeitig beschäftigt sie der Krieg, den sie eigentlich ablehnen, relativ wenig."