Authentisch, streitbar und außerhalb der Schubladen: Jutta Speidel wird 70
Sie schaffte Dinge, die vielen zu groß erscheinen: Jutta Speidel brach alles ab, was Erfolg hatte - und wurde eine der beliebtesten Schauspielerinnen Deutschlands. Am 26. März feiert die Münchnerin, die tausenden obdachlosen Menschen ein Dach über dem Kopf besorgte, ihren 70. Geburtstag.
Sie stammt aus gutbürgerlichem Münchener Hause, doch ihr Leben verlief weitaus weniger vorsichtig, als man es hätte annehmen konnte. Jutta Speidel, geboren am 26. März 1954, schaffte es von der Kinder- über die Kult- zur Volksschauspielerin. Doch ähnlich wie im Privatleben machte sie stets Schluss, bevor sie keine Lust mehr "auf eine Rolle" hatte. Als wichtigstes Speidel-Werk darf jedoch ihr Engagement für Obdachlose gelten. 1997 gründete sie den Verein "Horizont", der sich um wohnungslose Frauen und ihre Kinder in München kümmert. 72 Wohneinheiten in zwei Häusern sind seitdem entstanden, ein drittes Haus soll folgen. Am 26. März wird die Schauspielerin und "Macherin" Jutta Speidel 70 Jahre alt.
Sie kam als einziges Kind eines Münchener Patentanwaltes aus dem Süden der Stadt auf die Welt. Der Vater war oft abwesend, ihre Mutter - Hausfrau und Sekretärin des Vaters - beschreibt sie in der BR-Lebenslinien-Doku "Jutta Speidel - Ich mach's einfach" von 2019 (ARD Mediathek) als zugewandte, aber auch nicht ganz einfache Frau. So wie wohl auch die Tochter, glaubt man zwischen den Zeilen herauszuhören. Im Film ist die alte Dame, Gerlinde Speidel, noch bei einem Besuch der Tochter im Seniorenheim zu sehen. Wenige Wochen nach den Aufnahmen verstarb sie im Alter von 92 Jahren. "Ich bin impulsiv und strukturiert, beides ist wichtig", verrät Jutta Speidel über sich selbst. Offenbar eine Mischung, die ihr Erfolg in nunmehr 70 Jahren Leben brachten. Dabei deckte sie mit ihrem Spiel Jahrzehnte deutscher Film- und später Fernsehgeschichte ab. Meist in Hauptrollen wohlgemerkt.
Kapitalismuskritik und Kaffeewerbung
Jutta Speidel begann als Jugendliche in Paukerkomödien mit Peter Alexander ("Hurra, die Schule brennt", 1969), blieb dem Komödienfach erst mal treu und schmiss ihr Mathe-Abi während der Prüfung, um zu Dreharbeiten in die Lüneburger Heide zu fahren. Früh stand sie auf eigenen Beinen. Mit 20 hatte Jutta Speidel bereits in 16 Kinoproduktionen mitgewirkt. Später kam das Theater hinzu und Kultfilme wie "Fleisch" von Rainer Erler (1979), der heute als wegweisender deutscher Paranoia- und Gesellschaftsthriller gilt. Es geht es um die Jagd auf Menschen und den Handel mit ihren Organen. "Fleisch" war ein Kino-Renner in der DDR und anderen sozialistischen Ländern - wegen seiner Kapitalismuskritik. In Westdeutschland wurde der Film aber zeitweise verboten.
Jutta Speidel, die schöne und doch bodenständige Blonde, lebte damals in einer mehrjährigen Beziehung mit ihrem Schauspielkollegen Herbert Herrmann. 1980 wirkte man sogar mal in einer der ersten "Traumschiff"-Folgen mit. Doch die Beziehung zerbrach, wie auch zwei andere längere Lieben danach. Nachdem Jutta Speidel zur alleinerziehenden Mutter einer Tochter aus einem One-Night-Stand wurde (den Namen des Vaters hat sie nie verraten), kam eine zweite Tochter aus der Beziehung mit dem hessischen Holz-Unternehmer Stefan Feuerstein zur Welt. Auch diese Liaison hielt ein paar Jahre, ehe Jutta Speidels dritte und bislang letzte "große Liebe" auf den Plan trat: der italienische Schauspieler Bruno Maccallini, mit dem sie von 2003 bis 2013 liiert war und dem die deutsche Werbespot-Kultur den Spruch "Isch 'abe gar keine Auto" aus einem Kaffee-Werbespot zu verdanken hat.
"Carpe diem - ich nehme den Tag"
Zwischen Kultkino und Wohlfühlfernsehen prägte Jutta Speidel gleich mehrere Erfolgsformate - aus denen sie aber freiwillig ausstieg, als sie keine Lust mehr auf die Rollen hatte. Serien wie "Forsthaus Falkenau", "Alle meine Töchter", "Rivalen der Rennbahn" oder das Nonnen-Epos "Um Himmels Willen", in dem sie sich als Schwester Lotte von 2002 bis 2006 mit dem von Fritz Wepper gespielten Bürgermeister um die richtigen Werte kabbelte. Über Jahre war "Um Himmels Willen" die erfolgreichste deutsche Fernsehserie überhaupt. "Ich bin aus allem, was länger ging, ausgestiegen", sagte sie in der Doku von 2019 zum 65. Geburtstag und fügt noch eine kleine "Um Himmels Willen"-Spitze hinzu: "Ich bin angetreten, um Frauengeschichten zu erzählen. Und es wurden Bürgermeistergeschichten."
Jutta Speidel ist bis heute eine der wenigen Frauen in der Unterhaltungsbranche, die zu ihrem Alterungsprozess stehen. Schönheits-Operationen lehnte sie immer ab. "Bei mir passt alles zusammen", sagt sie. "Ich finde, nichts ist schöner als ein schön gealterter Mensch." Ihr soziales Engagement, Schutzhäuser für obdachlose Frauen und Mütter in München, dürfte heute ihr wichtigstes Projekt sein, auch wenn sie vor kurzem ihren ersten Roman "Amaryllis" veröffentlichte. 2003 eröffnet Jutta Speidel ihre erste soziale Wohnanalge mit 24 Wohnungen. Alles ist spendenfinanziert. Das zweite Haus bietet 48 Wohnungen inklusive Traumatherapie-Zentrum.
Ihren Geburtstag will sie, das verriet Jutta Speidel vor kurzem Hubertus Meyer-Burckhardt in einem launigen "NDR Talk Show"-Gespräch, mit den beiden Töchtern Antonia und Franziska sowie den Enkelkindern verbringen. Dann wird etwas Schönes gegessen, und eine Reise soll folgen. Melancholie oder gar Wehmut über die verflossenen Jahre, auch das machte Speidel deutlich, sind nicht ihr Ding. "Ich bin ja so wahnsinnig neugierig. Ich habe gar keine Zeit darüber nachzudenken, ob mir die Zeit noch bleibt, das, was mich interessiert, zu erleben. Carpe Diem - ich nehme den Tag", erzählte sie Meyer-Burckhardt. Jutta Speidel ist eine positiv denkende, zupackende Frau. "Wenn man mit einem Problem zu ihr geht, muss man sich darauf einstellen, dass das Problem gelöst wird", sagte Jutta Speidels Tochter Antonia in der BR-Doku. Wer Leid und Jammertäler sucht, darf sich also nicht in die Nähe der nunmehr 70-Jährigen begeben.