"Wo bleiben die hellhäutigen Deutschen?": Umstrittene ARD-Doku liefert weiteren Zündstoff
Es war genau die Doku, auf die man beim DFB augenscheinlich nicht gewartet hatte. Kurz vor Start der Heim-EM ist man in Team und Betreuerstab begreiflicherweise bemüht, Euphorie zu schüren. Auf dass eine Stimmung entstehen möge, welche die Nationalmannschaft erfolgreich durchs Turnier trägt. Wenn es etwas gibt, das dem zuwiderläuft, dann sind das gesellschaftspolitische Problemdebatten, wie sie nachträglich als sportlicher Sargnagel der verkorksten Katar-WM ausgemacht wurden.
So zumindest lässt sich die Schärfe erklären, mit der erst Nationalspieler Joshua Kimmich und dann Bundestrainer Julian Nagelsmann auf Umfrage-Ergebnisse aus einer aktuellen WDR-Dokumentation reagiert haben. Laut dem Film "Einigkeit und Recht und Vielfalt", der jetzt in der ARD-Mediathek zur Verfügung steht, stimmen 21 Prozent der repräsentativ Befragten der Aussage zu: "Ich fände es besser, wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen." Die bei Weitem höchste Zustimmung zu der These (47 Prozent) gibt es bei Menschen, die die AfD wählen.
Joshua Kimmich nennt Studie "absolut rassistisch" und "kontraproduktiv"
Als "absolut rassistisch" geißelte Kimmich, auf einer Pressekonferenz konfrontiert, den Wunsch nach mehr weißen Nationalspielern. Daneben fand er die Umfrage selbst "absolut kontraproduktiv". Ähnlich äußerte sich kurz später Bundestrainer Nagelsmann: "Ich war schon schockiert, als ich über die Umfrage informiert worden bin - und darüber, dass solche Fragen gestellt werden und es Menschen gibt, die darauf antworten."
Dem ersten Teil ihrer Analyse ist nicht zu widersprechen. Beim zweiten verhält es sich schwieriger. Für den Film, der am Mittwochabend um 21.30 Uhr im Rahmen eines ARD-Thementags zur Fußball-EM im Ersten gesendet wird, zeichnet der Journalist Philipp Awounou verantwortlich. Er sprach mit Autorinnen, Forschenden und Sportlern wie Alice Hasters, Tuğba Tekkal, Gerald Asamoah und in Person von Jonathan Tah sogar mit einem aktuellen EM-Fahrer. Sie alle berichten über ihre persönlichen Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Da scheint es zumindest geboten, ihnen zuzuhören. Auch kurz vor einer Heim-EM.
Studie: Deutsche wurden nach "Sommermärchen"-WM "leicht nationalistischer"
Als die frühere Profi-Fußballerin Tuğba Tekkal über rassistisches Mobbing während ihrer Schulzeit spricht, kann sie vor der Kamera die Tränen nicht zurückhalten: "Diese vergifteten Glaubenssätze - 'Ich bin es nicht wert', 'Ich gehöre nicht dazu' - immer wenn ich darüber rede, habe ich das Gefühl, ich bin wieder die Zwölfjährige." Wenn sie über die deutschen "Sommermärchen"-WM 2006 redet, gerät die Sportlerin kurdisch-jesidischer Abstammung indes ins Schwärmen: "Wir waren alle Deutschland in dem Moment, das war so, so schön."
So ein Gemeinschaftsgefühl, ein zweites "Sommermärchen", wünschen sich beim DFB wohl alle. Umso weniger wird es im Verband auf Begeisterung treffen, dass Philipp Awounou an diesem "Mythos", wie er sagt, kräftig ruckelt. "Eine Langzeitstudie zweier Universitäten findet keine positiven Effekte des sogenannten Party-Patriotismus", zitiert der Filmautor die Wissenschaft. Das Gegenteil sei herausgekommen: Deutsche seien nach der WM 2006 "sogar leicht nationalistischer und fremdenfeindlicher" eingestellt gewesen als zuvor.
Alice Hasters: "Kann es einen gesunden Patriotismus geben?"
Noch deutlicher äußert sich die Journalistin Alice Hasters, Autorin des Bestsellers "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten". "Kann es einen gesunden Patriotismus geben?", denkt sie laut und gibt die Antwort selbst. "Wenn man diesem Stolz wieder die Tür aufmacht, habe ich das Gefühl, dauert es nicht lange, bis er wieder an diesen Punkt führt, dass man versucht, stolz zu sein auf eine Geschichte, die eine zu Recht schambehaftete Geschichte ist, wo versucht wird, die Zeit des Nationalsozialismus zu verharmlosen." Das ist in der Zuspitzung zweifellos starker Debatten-Tobak. Aber einige Fan-Aussagen, die der Film enthält, sind es umso mehr.
In Blankenhain in Thüringen, dort wo das DFB-Team zuletzt ein Trainingslager abgehalten hat, ging Autor Awounou im Vorfeld auf Stimmenfang in der Bevölkerung. "Wie soll ich sagen? Ein Afrikaner kann kein Deutscher sein, im Endeffekt", erklärt ihm ein Passant. Ein anderer winkt ab: "Die Mannschaften sind sowieso nicht mehr richtig deutsch, das ist sowieso ein Witz."
Dann entspinnt sich zwischen dem weißen, älteren Passanten und dem dunkelhäutigen Reporter ein absurder Dialog.
Passant: "Ein echter Deutscher ist für mich - jetzt will ich Ihnen nicht zu nah treten - hellhäutig."
Awounou: "Warum kann ich jetzt nicht ein echter Deutscher sein?"
Passatn: "Weil Ihre Eltern keine Deutschen sein können."
Awounou: "Meine Mutter ist Deutsche."
Passant: "Na gut, das geht natürlich schon, aber... Wo bleiben die hellhäutigen Deutschen? Die können auch Fußball spielen."
Jonathan Tah: "Was bin ich dann?"
DFB-Star Jonathan Tah kommentiert die Szenen vor der Kamera spürbar angefasst: "Ich würde mich gerne mal mit so einem länger unterhalten - ernsthaft - und ihn verstehen", sagt der frisch gebackene Deutsche Meister von Bayer 04 Leverkusen. Seine Ausführungen im Film sind eine reflektierte Wohltat. So sagt der ivorischstämmige Abwehrspieler: "Wenn ich in die Elfenbeinküste gehe, bin ich der Deutsche, und hier - in der Sicht des Mannes - bin ich es nicht. Da bleibt immer die Frage: Was bin ich dann?"
Eine gute Frage, die Jörn König, sportpolitischer Sprecher der AfD, vermeintlich klar beantwortet: "Deutscher ist, wer deutscher Staatsbürger ist, so - und der darf auch in der deutschen Nationalmannschaft spielen, wenn er denn halt gut genug ist, und damit ist das Thema durch." Allerdings bekräftigt er auch, "dass bestimmte Teile des Volkes" von der "doch rasanten Migration in den letzten zehn Jahren überfordert" seien. Man müsse es den Menschen zugestehen, das zu äußern.
Der Unterschied bestehe nicht zwischen Zugewanderten und Einheimischen, erläutert der AfD-Politiker weiter. "Der Unterschied ist zwischen den Leuten, die Leistung bringen und denen, die keine Leistung bringen. Dass man über Leistung anerkannt wird, das ist was sehr Deutsches."
Shkodran Mustafi: Mesut Özil wurde missverstanden
Die passende Replik gibt Filmemacher Awounou: "Wenn ein Deutscher ohne Migrationshintergrund nicht leistet, ist er immer noch deutsch. Menschen mit Migrationshintergrund sind dann oft nicht mehr deutsch. Dieses Muster haben auch Fußballspieler beschrieben, nicht zuletzt Mesut Özil."
Für Özil, der infolge der Debatte um ein gemeinsames Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan mit Deutschland gebrochen hat, wirbt ein ehemaliger Mitspieler um Nachsicht. Skodran Mustafi, Weltmeister von 2014 mit albanischen Wurzeln, findet, Mesut Özil sei immer missverstanden worden. "Man hat ihn benutzt, um die perfekte Integration zu zeigen, aber er war einfach nicht der Typ dazu." Mustafi weiter über seinen Weggefährten bei Arsenal London und in der Nationalmannschaft: "Er ist in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen, ist aber in eine türkischstämmige Familie geboren. Das wirst du nicht aus ihm herausbekommen."
Beim EM-Eröffnungsspiel wird voraussichtlich einer die deutsche Kapitänsbinde tragen, der damals ebenfalls beim Erdoğan-Fototermin dabei war, aber deutlich souveräner mit der Kritik umgegangen ist: İlkay Gündoğan. Sind wir in Deutschland vielleicht doch weiter, als es AfD-Wahlergebnisse und "Remigrations"-Geheimtreffen Glauben machen? Eindeutig ja, befindet im Film der Soziologe Aladin El-Mafaalani, der ein vermeintliches Paradoxon positiv auflöst: "Die Ränder werden immer lauter, gerade weil die Gesellschaft liberaler wird."