11.000 Jahre Rausch, Medizin, sozialer Kitt – Die Bedeutung von Alkohol

Alkohol ist fester Bestandteil gesellschaftlicher Rituale: Jeder Deutsche trinkt im Durchschnitt knapp 107 Liter Bier im Jahr. (Bild: Thinkstock)
Alkohol ist fester Bestandteil gesellschaftlicher Rituale: Jeder Deutsche trinkt im Durchschnitt knapp 107 Liter Bier im Jahr. (Bild: Thinkstock)

Goethe trank schon mal drei Flaschen Wein am Tag. Als Alkoholiker galt er trotzdem nicht. Die gesellschaftliche Funktion und die Betrachtungsweise von Alkohol ändern sich nun mal ständig. Gleich bleibt nur: die Menschen berauschen sich gerne, und das schon seit mindestens 11.000 Jahren, wie aktuelle Forschungen zeigen. Denn Alkohol enthemmt. Er verbindet Fremde und entzweit Freunde. Yahoo! erklärt Ihnen, welche Rolle Alkohol heute spielt.

Na dann: Prost! 12,8 Liter puren Alkohol trinkt jeder Deutsche laut Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahr, das entspricht 775 Gläsern Bier. Im europäischen Ländervergleich reicht das aber nur für Platz 19. Den unrühmlichen Sieg holt Moldawien mit mehr als 18 Litern pro Person. Alkohol ist nicht grundlos so beliebt.

„Alkohol hat eine Entlastungsfunktion vom Alltag“, sagt Professor Hasso Spode. Der Berliner Soziologe beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Kultur- und Sozialgeschichte von Alkohol. Manche besaufen sich, um zu verdrängen und der Realität zu entfliehen, andere um Mut zu erlangen. Alkohol erweitert das Bewusstsein, macht die Menschen lockerer und gehört fest zu traditionellen Anlässen wie Hochzeiten oder Geburtstagen, fungiert so als gesellschaftliches Bindemittel. Die Aufgabe als zwischenmenschlichen Kitt gebe es aber erst seit dem 19. Jahrhundert, sagt Spode. „Ein soziales Schmiermittel ist nur dort nötig, wo die Bürger Abstand zueinander halten, wo es knirscht“, erklärt der Wissenschaftler. In anderen Gesellschaften, wo die Individualität nicht derart ausgeprägt sei, benötige man keine hochprozentige Hilfe, um sich näher zu kommen.

Über eine Million Deutsche gelten als alkoholabhängig

Derzeit beobachtet Spode eine leichte Abkehr vom Alkoholkonsum. „Wir befinden uns in einer Übergangsphase von den hedonistischen 68er Jahren hin zu den asketischen Nuller Jahren“, meint der Experte. Ständig müsse man anderen Menschen beweisen, dass man sich im Griff habe. Weniger Alkohol, weniger Zigaretten, gesünderes Essen. Dennoch steigen die offiziellen Zahlen der Alkoholiker in Deutschland. „9,5 Millionen Menschen konsumieren Alkohol in riskantem Umfang. 1,3 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig“, heißt es auf der Webseite der Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Die steigende Zahl hat laut Spode aber nichts mit dem aktuellen Konsum sondern mit immer strengeren Definitionen zu tun. „Im Kaiserreich wurde pro Kopf genauso viel getrunken wie heute“, so der Professor. Die Alkoholikerquote sei aber um ein Vielfaches niedriger gewesen. „Goethe trank zwei bis drei Flaschen Wein am Tag. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als Alkoholiker zu bezeichnen“, meint Spode. „Wir werden immer empfindlicher.“ Die Vorstellung, dass es einen Trinkzwang, also eine Alkoholsucht gebe, existiere auch erst seit 200 Jahren. Wer bis dahin öfter mal zu tief ins Glas schaute, hatte schlicht eine schlechte Angewohnheit. Dass die Besorgnis immer mal wieder steige, sei hingegen normal. „Thematisierungskonjunkturen“ nennt Spode das.

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Schon seit Jahrtausenden berauschen sich die Menschen mit Alkohol. Erst vor wenigen Monaten entdeckten Archäologen in der Türkei Gefäße zum Bier brauen, die nahezu 11.000 Jahre alt sind. Man werde noch ältere Funde ausgraben, glaubt der Soziologe Spode. „Man kann davon ausgehen, dass sich auch die Steinzeitmenschen einen angezwitschert haben“, sagt er. Und die Steinzeit begann immerhin vor 2,6 Millionen Jahren. Spode vermutet, dass die Vorfahren der Menschen den Alkohol aus der Natur, beispielsweise aus Pflanzen und Früchten, gewonnen haben. Noch heute kann man in Afrika Affen und Elefanten beobachten, die sich am Marula-Baum berauschen - der trägt nämlich Früchte mit Schuss.

Bis heute dient Alkohol der Entlastung

In Stammesvölkern hatte der Alkohol eine weitaus existenziellere Funktion als die Flucht aus dem Alltag, ist Spode überzeugt. „Da gibt es die kollektive Berauschung, ein archaisches Gelage, das eng mit magisch-religiösen Vorstellungen verbunden ist“, erklärt er. Der Berauschte trete aus sich heraus, wolle in der Ekstase die Grenze zu Menschen und gar Göttern niederreißen, Transzendenz erlangen. „Bei komplexeren Gesellschaften wie den Römern kam dann die Entlastungsfunktion des Alkohols vom Alltag hinzu“, sagt Spode. Das kennzeichne die Kultur bis heute. Bis zur frühen Neuzeit, also etwa um das 14. Jahrhundert, waren alkoholische Getränke zudem multifunktional: sie waren Lebensmittel, Heilmittel, Rauschmittel und Stärkungsmittel in einem. Und ihre Keimbelastung war geringer als im Wasser. „Im 19. Jahrhundert gab es eine Umwertung hin zum Genussmittel“, erklärt Spode. Wein und Bier wurden unbedeutender, die Wasserqualität in den Städten wurde besser, Kaffee und Tee immer beliebter. Den Alkohol-Gegnern kam das gerade recht. Schließlich kann man auf Genuss eher verzichten als auf wichtige Dinge wie Nahrung und Heilmittel. Das Glas Wein zum Essen oder das Bier zum Fußball wird jedoch auch künftig nicht wegzudenken sein.