Claudia Neumann vor der Frauen-WM: "Wir haben noch ganz andere Probleme mit dem Fußball"

Sie musste zuletzt wieder bei ihrem Kommentar des Champions League Endspiels zwischen Manchester City und Inter Mailand am 10. Juni 2023 im ZDF einen frauenfeindlichen Shitstorm aushalten: Wie geht Claudia Neumann damit um? (Bild: ZDF/Torsten Silz)
Sie musste zuletzt wieder bei ihrem Kommentar des Champions League Endspiels zwischen Manchester City und Inter Mailand am 10. Juni 2023 im ZDF einen frauenfeindlichen Shitstorm aushalten: Wie geht Claudia Neumann damit um? (Bild: ZDF/Torsten Silz)

Am 20. Juli beginnt die Fußball-WM der Frauen in Australien und Neuseeland. ARD und ZDF zeigen alle Spiele bis zum Finale in Sydney am 20. August. ZDF-Stimme Claudia Neumann spricht über die neue deutsche Nationalmannschafts-Scham und wie Frauen auf und jenseits des Platzes den Fußball retten könnten.

Claudia Neumann, 59 Jahre alt, muss viel Last tragen. Als erste deutsche Frau kommentierte sie bei der Fußball-Männer-EM 2016 ein Turnierspiel. Vor wenigen Wochen feierte sie ihr Debüt als erste weibliche Stimme, die im deutschen Fernsehen ein Champions League-Finale der Männer begleitete. Gemeinsam haben die meisten exponierten Auftritte der erfahrenen ZDF-Sportjournalistin, dass sie von frauenfeindlichen Beleidigungen übelster Sorte begleitet werden. Insofern dürfte Neumann, die seit 30 Jahren über die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Frauen berichtet, bei der FIFA Frauen-WM 2023 in Australien und Neuseeland (Eröffnung am Donnerstag, 20. Juli, 9 Uhr, Das Erste) mal wieder "unter Frauen" und damit hoffentlich im "Shitstorm"-armen Raum arbeiten kann. Im Interview blickt Claudia Neumann auf das anstehende WM-Turnier und die Krise der deutschen Nationalmannschaften, aber sie spricht auch über grundlegende Probleme der heutigen Fußball-Kultur und unserer Gesellschaft.

teleschau: In Bezug auf die Männerfußball-Nationalmannschaften scheint die Stimmung in Deutschland auf dem Tiefpunkt. Müssen die Frauen unseren Fußball jetzt retten?

Claudia Neumann: Ach, es bringt sicher nichts, wenn wir unsere Nationalmannschaften gegeneinander ausspielen. Den Druck, von dem Sie reden, spüren die Spielerinnen vor der WM ja schon selbst. Davon abgesehen haben aber fast alle deutschen Fußball-Nationalmannschaften ähnliche Probleme. Eine logische Folge dessen, dass man in der Ausbildung lange zu einseitig gearbeitet hat. Fehler, die die Verantwortlichen auch analysiert haben.

teleschau: Welche Fehler sind das?

Claudia Neumann: Alle deutschen Nationalmannschaften haben auf ähnlichen Positionen Probleme. Wir haben keine guten Außenverteidiger und - wenn man mal von Alexandra Popp absieht - auch keine klassischen Mittelstürmer. Und alle Teams sind konteranfällig bei offensiver Verteidigung. Auch im Frauenfußball hat man sich über viele Jahre intensiv mit taktischen Systemen auseinandergesetzt. Da waren Passspiel und das Spiel gegen den Ball wichtiger als die Individualität. Deshalb gibt es bei uns zu wenige Eins-gegen-eins-Spielerinnen, die einfach mal mit Tempo in ein Dribbling gehen oder andere ungewöhnliche Dinge tun. Spielerinnen und Spieler, die von zehn Versuchen achtmal im Dribbling scheiterten, aber zweimal durchkamen, wurden von den Trainern zu anderem Verhalten erzogen. Dabei ist zwei von zehn bei Offensivaktionen gar keine schlechte Quote, denn genau die Aktion macht den Unterschied.

Seit 1993 begleitet ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Frauen. Nun natürlich auch zur insgesamt neunten WM, die vom 20. Juli bis 20. August in Australien und Neuseeland stattfindet. Was erwartet die 59-Jährige vom Turnier - und der deutschen Mannschaft? (Bild: ZDF/Torsten Silz)
Seit 1993 begleitet ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Frauen. Nun natürlich auch zur insgesamt neunten WM, die vom 20. Juli bis 20. August in Australien und Neuseeland stattfindet. Was erwartet die 59-Jährige vom Turnier - und der deutschen Mannschaft? (Bild: ZDF/Torsten Silz)

"Die Schrauben im Fußballgeschäft sind deutlich überdreht"

teleschau: Haben wir Deutsche zu viel Angst vor Fehlern, weshalb wir versuchen, ein teilweise unberechenbares Spiel berechenbar zu machen?

Claudia Neumann: Ach, das alles mit dem deutschen Wesen zusammenzubringen, wäre vielleicht ein bisschen überinterpretiert. Immerhin hatten wir "planenden Deutschen" ja bis in die 80-er und 90-er hinein große Probleme mit taktischer Schulung. Da waren andere Nationen wie Italien viel weiter. Wir Deutschen haben uns beim Fußball dagegen vorwiegend über den Kampf definiert. Taktik, Spielsysteme und so weiter - dieser Trend hat bei uns später eingesetzt als anderswo. Vielleicht haben wir es damit in den letzten Ausbildungs-Generationen ein bisschen übertrieben. Aber wir haben noch ganz andere Probleme mit dem Fußball, die den Sport in die Krise geführt haben.

teleschau: Welche Probleme meinen Sie?

Claudia Neumann: Die Schrauben im Fußballgeschäft sind deutlich überdreht, vor allem natürlich im Profifußball der Männer. Es gibt viel zu viele Spiele, zu viel Medienpräsenz und viel zu viel Kommerz. Die Corona-Zeit war eine Zäsur, viele haben sich in dieser Zeit emotional vom Fußball abgewendet, haben die Verhältnismäßigkeiten hinterfragt. Auch die organisierte Fan-Szene wird nun endlich gehört, was ich sehr wichtig finde. Wie nachhaltig sich der Dialog auswirkt, ist aber noch nicht erkennbar. Man erzählt den Menschen etwas von Wertesystemen, handelt aber selbst nur nach rein kommerziellen Gesichtspunkten. Da vermittelt sich der Eindruck, dass Fans am Nasenring durch die Manege geführt werden.

teleschau: Aber wird nicht gerade bei den Frauen spätestens seit der EM in England 2022 wieder der ehrliche, wahre Fußball gefeiert?

Claudia Neumann: Ja, diesen Effekt sehen wir auf jeden Fall. Zum einen haben die Leute 2022 gemerkt, dass der Frauenfußball - rein sportlich - sehr viel besser geworden ist. Das sind Top-Athletinnen, die ihr Ding mit Inbrunst und großer Professionalität leben. Die Frauen füllen auf jeden Fall eine Lücke im Fußball. Eine emotionale Unzufriedenheit, die durch die Abgehobenheit des Männerfußballs und seine Entfremdung von den Menschen entstanden ist.

Die deutschen Nationalmannschaften haben alle ähnliche Probleme, sagt Claudia Neumann: Außenbahn, klassische "Neuner", aber auch mangelnde Risikobereitschaft und Fähigkeiten im Eins-gegen-Eins. Können die deutschen Frauen die angeknackste Nationalmannschafts-Ehre "unserer" Fußballnation retten?  (Bild: ZDF/Torsten Silz)
Die deutschen Nationalmannschaften haben alle ähnliche Probleme, sagt Claudia Neumann: Außenbahn, klassische "Neuner", aber auch mangelnde Risikobereitschaft und Fähigkeiten im Eins-gegen-Eins. Können die deutschen Frauen die angeknackste Nationalmannschafts-Ehre "unserer" Fußballnation retten? (Bild: ZDF/Torsten Silz)

"Ein solches Desaster konnte keiner zulassen"

teleschau: Wie schätzen Sie die Frauen-WM in Australien und Neuseeland ein? Wird das Turnier in Deutschland wieder einen solchen Hype auslösen, wie zuletzt die England-EM 2022?

Claudia Neumann: Ich kann zumindest über Australien sagen, dass der Frauenfußball dort sehr populär ist. Das wird sich aufs Turnier übertragen. Ein volles Stadion macht sehr viel aus, die Stimmung überträgt sich. Wir haben in Europa natürlich das Problem, dass viele Partien morgens oder vormittags im Live-TV stattfinden. Insofern wird das Turnier hierzulande insgesamt weniger Zuschauer erreichen als die EM vor einem Jahr.

teleschau: Lange Zeit war unklar, ob die WM überhaupt übertragen wird. Wie konnte eine solch absurde Situation überhaupt eintreten?

Claudia Neumann: Es war das erste Mal, dass die Rechte für eine Frauen-WM nicht im Paket mit Männerturnieren verkauft wurde. Deshalb hatte "die Ware" Frauen-WM bisher kein Preisschild. Dass ARD und ZDF das Turnier, wie in den vergangenen Jahrzehnten übertragen wollen, war schon länger im Rahmen eines Bieterverfahrens klar. Zur Professionalisierung gehören unausweichlich finanzielle Mittel, aber eben nicht nur. Ein komplizierter Spagat, ich bin gespannt, welches Zukunftsmodell für den Frauenfußball zum Erfolg führt. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben natürlich Sendeaufträge und auch eine Berichtspflicht, aber eben nicht die Aufgabe, den Frauenfußball oder generell eine bestimmte Sportart zu entwickeln, zu promoten. Das ist Aufgabe der Verbände.

teleschau: Hatten Sie wirkliche Sorge, dass die Frauen-WM hier gar nicht gezeigt wird?

Claudia Neumann: Nein, ehrlich gesagt nicht. Eine Einigung war im Grunde alternativlos. Ansonsten hätte es überall nur Verlierer gegeben. Die Sponsoren hätten es nicht akzeptiert, die wichtigsten europäischen TV-Märkte auszusparen. Ein solches Desaster konnte keiner zulassen.

Der Fußball hat auch Probleme außerhalb des Platzes, findet ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann. "Die Schrauben im Fußballgeschäft sind deutlich überdreht, vor allem natürlich im Profifußball der Männer." (Bild: ZDF/Torsten Silz)
Der Fußball hat auch Probleme außerhalb des Platzes, findet ZDF-Sportreporterin Claudia Neumann. "Die Schrauben im Fußballgeschäft sind deutlich überdreht, vor allem natürlich im Profifußball der Männer." (Bild: ZDF/Torsten Silz)

"Dann fährt man nach dem Achtelfinale nach Hause ..."

teleschau: Dann kommen wir doch mal zu den sportlichen Fragen: Wer wird Weltmeister - und welche Rolle spielt die deutsche Mannschaft?

Claudia Neumann: Das kann vor den ersten Spielen niemand seriös beantworten. Fest steht, die Anwärter-Nationen auf den Titel werden mehr. In vielen Nationen wurde der Frauenfußball in den letzten Jahren stark professionalisiert. Viele haben jetzt fast überall Top-Trainer und deutlich verbesserte Strukturen. Es gab bisher erst acht Frauen-Weltmeisterschaften mit vier Weltmeistern. Viermal haben die USA gewonnen, zweimal waren es die Deutschen, einmal Norwegen und einmal Japan. Die kleinen Nationen verfügen mittlerweile sämtlich über gute Spielsysteme, natürlich oft auf Defensive ausgerichtet. Die hohen Resultate von früher, die 8:0-Ergebnisse, die gibt es kaum noch.

teleschau: Was wird Deutschland Ihrer Meinung nach erreichen?

Claudia Neumann: Deutschland hat eine leichte Vorrundengruppe und muss darin einfach weiterkommen. Danach könnte man aber schon im Achtelfinale auf Brasilien oder Frankreich treffen. Gegen beide Teams kann man verlieren. Dann fährt man nach dem Achtelfinale nach Hause und kann in Bezug auf den deutschen Fußball wieder Trübsal blasen. Es ist ein Riesendruck, der da wegen der gestiegenen Aufmerksamkeit auf der deutschen Frauen-Mannschaft lastet.

teleschau: Und die anderen Favoriten ...

Claudia Neumann: Natürlich muss man die USA nennen, die sind immer Top-Favorit. In Amerika ist der Frauenfußball historisch am selbstverständlichsten. Brasilien hat ein spannendes Team aus älteren erfahrenen Spielerinnen wie Marta und jungen Top-Talenten. Kanada ist zwar Olympia-Sieger, aber die sehe ich nicht ganz oben, eher Gastgeber Australien. Dazu die europäischen Nationen England, Frankreich, Spanien und natürlich auch Deutschland.

"Der Hauptgrund, warum wir mittlerweile so schlecht miteinander umgehen"

teleschau: Seit Sie bei der Männer-EM 2016 als erste Frau im deutschen Fernsehen ein Spiel kommentiert haben, sind Sie immer wieder Opfer von Anfeindungen geworden. Zuletzt beim Champions League-Finale 2023. Wie sehr schmerzt es, wenn man immer wieder persönlich zur Zielscheibe wird?

Claudia Neumann: Ich möchte dieses Thema nicht mehr auf der persönlichen Ebene diskutieren, weil ich alle Fragen dazu schon hunderte Male beantwortet habe. Natürlich macht es keinen Spaß, permanent beleidigt zu werden. Aber ich weiß die Vorgänge einzuordnen. Wir reden hier über gesellschaftliche Probleme: Hass im Netz, Frauenfeindlichkeit, der aggressive Umgang miteinander, an den wir uns fast schon gewöhnt haben. Viele in unserer Gesellschaft fühlen sich nicht mehr mitgenommen. Das ist für mich der Hauptgrund, warum wir mittlerweile so schlecht miteinander umgehen.

teleschau: Es gibt aber auch positive Entwicklungen, was die Sichtbarkeit von Frauen im Fußball betrifft. Mittlerweile haben alle Sender Expertinnen in den Diskussionsrunden sitzen. Warum ist ausgerechnet der Kommentar eines Spieles immer noch ein rotes Tuch für manche Männer?

Claudia Neumann: Vielleicht sehen sie den Kommentar als Kern der Deutungshoheit über Fußball, über die sich ja trefflich streiten lässt. Aber ungern mit einer Frau, so denken offenbar einige immer noch. Wichtig ist am Ende, dass wir Frauenfeindlichkeit an sich überwinden. Ich bin Teil der Initiative "Fußball kann mehr", die Frauen in verschiedenen Bereichen des Fußballs fördert. Da bilden wir unter anderem auch Kommentatorinnen aus - auch wenn mein Beispiel den jungen Frauen wenig Mut macht (lacht). Es gibt viele Stellschrauben, an denen wir drehen und das macht mir nach wie vor großen Spaß. Ich denke, wir haben schon viel erreicht. Es ist aber ein echter Prozess, der weitergehen wird.