Diabetes Typ 2: Die unerkannte Volkskrankheit

Die Zahlen sind alarmierend: 6,7 Millionen Menschen sind alleine in Deutschland an Diabetes erkrankt, rund weitere zwei Millionen, ohne es zu wissen. Pro Tag werden fast 1000 Neuerkrankungen diagnostiziert, Tendenz steigend. Die gute Nachricht: Der mit 90 Prozent am häufigsten vertretene Typ 2 lässt sich durch das eigene Verhalten gezielt beeinflussen.

Dieter Reinke weiß ganz genau, was er machen müsste. Als Koch einer Klinik im Allgäu berät er Patienten mit Diabetes in Ernährungsfragen, wiegt dabei aber selbst 160 Kilogramm bei 1,90 Metern. Sein Hausarzt hat ihn gewarnt: Wenn er nicht bald abnimmt und seinen Blutzuckerspiegel dauerhaft senkt, ist eine Therapie mit Tabletten oder Insulinspritzen unvermeidbar. Und trotzdem sagt er im Interview mit Yahoo! Deutschland: „Ehrlich gesagt, bin ich da relativ entspannt. Theoretisch weiß ich, dass ich abnehmen muss. Aber noch bin ich im Kopf nicht so weit.“ Was es so schwer macht für den 41-Jährigen, sich trotz der Gefahr zu motivieren? Bislang ist die Krankheit zu abstrakt.

Jeder Siebte könnte an den Folgen von Diabetes sterben

Weltweit sind 8,5 Prozent aller Erwachsenen Diabetiker, das sind 415 Millionen Menschen. Schätzungen der International Diabetes Federation gehen für das Jahr 2040 schon von 642 Millionen Betroffenen aus, eine Steigerung von mehr als einem Drittel. Lässt sich die Spirale nicht aufhalten, wird laut der Weltgesundheitsorganisation WHO bereits 2030 jeder Siebte an den Folgen von Diabetes sterben. Dabei leiden 90 Prozent aller Zuckerkranken wie Dieter Reinke am Typ 2, früher als Altersdiabetes bekannt. Und die ist, im Gegensatz zur Autoimmunerkrankung Diabetes Typ 1, in vielen Fällen vermeidbar.

Als Auslöser gelten vor allem falsche Ernährung und Bewegungsmangel, und diese Faktoren treffen auch auf immer jüngere Menschen zu. Pasta, Pommes und Pizza, häufig konsumiert, führen dazu, dass der Körper immer mehr Insulin produzieren muss, um den Blutzuckerspiegel auf ein normales Niveau herunterzufahren. Das Hormon soll die Aufnahme von Traubenzucker aus den Blutbahnen in die Zellen fördern, wo der Zucker in Energie umgewandelt wird. Ab einem gewissen Grad kommt das körpereigene Regulationssystem aber nicht mehr mit: Die Zellen werden unempfindlich für das Insulin, es gelangt immer weniger Zucker in die Körperzellen und der Blutzuckerspiegel steigt.

Wenn Symptome auftreten, ist es oft schon zu spät

Vermehrter Harndrang, starker Durst, trockene Haut, Müdigkeit - das sind laut Lehrbuch die klassischen Symptome. „In der Realität haben die meisten Patienten mit Typ 2 allerdings keine Beschwerden“, sagt die Diabetologin Dr. Kirsten Raab vom Hormon-und Stoffwechselzentrum München.

Zehn Jahre dauert es im Durchschnitt, bis eine Zuckerkrankheit bemerkt wird. Die besten Chancen haben diejenigen, bei denen sie im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes oder beim hausärztlichen Check-up frühzeitig entdeckt wird und bei denen die Werte nur leicht erhöht sind. „Die Therapie besteht dann in einer Basis-Lebensstil-Veränderung, zu der eine Ernährungs-Umstellung mit regelmäßigem Ausdauersport gehört“, so Dr. Raab. Gravierendere Fälle erfordern eine zusätzliche Behandlung mit Tabletten oder Insulin-Spritzen.

Dramatisch kann es werden, wenn die Krankheit erst entdeckt wird, weil die Patienten konkrete Beschwerden haben: „Dann haben sie es schon mit Langzeitfolgen zu tun, die die Augen, Nieren oder Nerven beeinträchtigen.“ Das Problem: Bei Diabetikern tritt oft das Metabolische Syndrom auf, bei dem der hohe Blutzuckerspiegel mit Bluthochdruck und erhöhten Fettwerten einhergeht. Eine fatale Kombination, die das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Nierenversagen und Nervenleiden drastisch erhöht.

Nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) amputieren Chirurgen in Deutschland 50.000 Mal pro Jahr einen Fuß, 2000 Diabetiker erblinden, 2300 müssen zur Dialyse. 2014 sind rund 23.000 Menschen in Deutschland an den Folgen eines Diabetes gestorben.

Diabetes kostet jährlich 35 Milliarden Euro

Dass die Krankheit oft erst erkannt wird, wenn die Patienten bereits mit Folgeerkrankungen zu kämpfen haben, ist nicht zuletzt auch ein riesiger Kostenfaktor. Die DDG geht von 35 Milliarden Euro aus, die pro Jahr von den deutschen Sozialkassen bezahlt werden müssen – eine ähnliche Summe entsteht durch die Folgen des Rauchens. Dabei könnte eine bessere Früherkennung den Posten um das Vier-bis Achtfache senken: Bei der Behandlung eines Diabetikers im Frühstadium fallen nur etwa 500 Euro pro Jahr an.

Aufklärung muss also her, und das wertfrei und ohne Schuldzuweisungen. Dass Diabetiker oft Sätze zu hören bekommen wie „Du bist doch selbst schuld, hättest du halt weniger gegessen und dich mehr bewegt“, kennt Thomas Danne aus der Praxis. „Die Stigmatisierung ist mit das schlimmste Thema“, findet der Kinderarzt und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Diabetes-Hilfe diabetesDE. „Und außerdem stimmt es ja nicht immer: Es gibt durchaus sehr dicke Menschen ohne Diabetes und nur leicht übergewichtige mit.“ Denn letztendlich entscheidet eben auch die genetische Veranlagung über Krankheit oder nicht.

Jeder sollte sein Risiko kennen

„Wir müssen einfach akzeptieren, dass viele Menschen davon betroffen sind und uns damit sachlich und vor allem öffentlich auseinandersetzen.“ Jeder sollte über sein Risiko Bescheid wissen, findet der Mediziner, weswegen er mit seinem Team den Deutschen Diabetes-Risiko-Test promotet. Unter www.2mio.de, kann jeder Interessierte einen Fragebogen ausfüllen, der sofort auswertet, wie hoch das persönliche Risiko einer Diabeteserkrankung ist. Eindeutige Sicherheit bringt aber nur ein Gesundheits-Check-up beim Arzt, der mit dem so genannten HbA1c-Wert den Langzeitblutzucker bestimmen sollte. Ein normaler Wert liegt zwischen fünf bis sechseinhalb Prozent.

Hier finden Betroffene Hilfe:

Zertifizierte Arztpraxen und Kliniken: www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de

Landesverbände und Regionalbeauftragte: www.menschen-mit-diabetes.de

Deutscher Diabetiker-Bund: www.diabetikerbund.de

(Interviews und Text: Ann-Catherin Karg / Bilder: Getty Images)