Die Hölle im Paradies: Lesbos steht für Europas Versagen

Mitten in der malerischen Landschaft von Lesbos müssen Flüchtlinge in Zeltstädten leben (Bild: Tobias Huch)
Mitten in der malerischen Landschaft von Lesbos müssen Flüchtlinge in Zeltstädten leben (Bild: Tobias Huch)

Unser Autor Tobias Huch hat Anfang Juni im Rahmen einer Hilfsaktion der Liberalen Flüchtlingshilfe das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. Hier beschreibt er seine Eindrücke.

Lesbos ist eine wunderschön griechische Insel, unweit der türkischen Küste gelegen und damit einer der westlichen Außenposten der EU. Für ihre Schönheit schon in der Antike berühmt, machten die homoerotischen Liebesgesänge der Dichterin Sappho, von denen sich der Begriff “lesbisch” herleitet, den Namen des Eilands endgültig weltbekannt.

Touristenziel und sicherer Hafen

Den meisten Deutschen ist Lesbos als Urlaubsinsel bekannt: Herrliche Strände, gutes Wetter, tolles Essen. Fährt man die endlose Küstenstraße entlang, vom Flughafen in die Hauptstadt Mytilini, umgibt den Reisenden einmalige Postkartenidylle, soweit das Auge reicht.

Umso weniger kann sich deshalb vorstellen, welche unfassbaren humanitären Dramen sich nur wenige Kilometer entfernt, in der Meerenge hinüber zur kleinasiatischen Küste, in den letzten Jahren ereigneten – und teilweise noch immer ereignen. Denn Lesbos ist nicht nur touristisches Sehnsuchtsziel, sondern auch eine der Hauptanlaufstellen für die Flüchtlingsströme in Richtung Mitteleuropa. Dies erklärt sich vor allem aus der exponierten Lage der Insel.

Deutsche kennen Lesbos vor allem als Urlaubsparadies (Bild: Tobias Huch)
Deutsche kennen Lesbos vor allem als Urlaubsparadies (Bild: Tobias Huch)

Schon vor knapp 100 Jahren war Lesbos ein rettender Hafen für die Pontos-Griechen – Christen, die vor mordenden türkischen Milizen auf der Flucht waren, die in einem Rausch “ethnischer Säuberungen” die ganze kleinasiatische Halbinsel turkisierten und die dort seit Jahrtausenden (lange bevor die ersten Türken anatolischen Boden betraten) heimischen Griechen vertrieben.

Schon nach dem ersten Genozid von 1915/16, während des Ersten Weltkriegs, war Lesbos naheliegender Zufluchtsort gewesen, und so war es auch beim Bevölkerungsaustausch von 1923. Und als in der Folge des syrischen Bürgerkriegs die Flüchtlingszahlen in der Türkei in die Millionen stiegen und sich 2015 die ersten Boote Richtung Europa aufmachten, waren es wieder Lesbos und seine Nachbarinseln, die als erste angesteuert wurden.

Inbegriff der Flüchtlingskrise

Und so ist heute Lesbos, wie auch die Nachbarinsel Kos, Inbegriff der aktuellen Flüchtlingskrise. Zehntausende Flüchtlinge wagten bis heute die gefährliche Überfahrt der Meerenge; tausende fanden dabei den Tod, darunter auch der kleine Alan, dessen Bild – der ertrunkene, geschwächte Junge leblos am Strand liegend – um die Welt ging und zu einem mahnenden Fanal gegen Krieg, Vertreibung und Flucht geworden ist.

Nicht ausmalen mag man sich, wie viele Leichen auf dem Meeresgrund liegen – die Körper unschuldiger Menschen, die vor dem Krieg in Syrien flohen; denkt man daran, dann vergeht einem in den grandiosen Restaurants von Lesbos schlagartig der Appetit auf Meeresfrüchte und andere kulinarische Spezialitäten der Insel. Wie soll man fangfrischen Fisch genießen, der sich womöglich auch von menschlichen Leichen ernährt hat? Es sind solche makabren aber nachvollziehbaren Gedanken, die die Helfer vor Ort umtreiben, welche täglich mit der humanitären Katastrophe direkt an Europas Außengrenzen konfrontiert sind.

Ohne den unermüdlichen Einsatz freiwilliger Helfer wäre die Lage auf Lesbos noch deutlich schlimmer (Bild: Tobias Huch)
Ohne den unermüdlichen Einsatz freiwilliger Helfer wäre die Lage auf Lesbos noch deutlich schlimmer (Bild: Tobias Huch)

Auch heute kommen noch täglich Boote mit Flüchtlingen in Lesbos an. Aktuell weniger als Folge der syrischen und russischen Angriffe, sondern es sind vor allem die Opfer des völkerrechtlichen Angriffs der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Partner auf Afrîn im Norden Syriens. Die friedliche und demokratische Enklave war von Erdogans Soldateska brutal überfallen und erobert worden, und nach historisch “bewährter” türkischer Manier findet zur Zeit dort ein grausamer Bevölkerungsaustausch statt.

Die angestammten Einwohner Afrîns – Kurden, Jesiden, Christen, Aleviten und Alawiten – werden gewaltsam vertrieben, stattdessen werden radikal-sunnitische Araber angesiedelt, die zuvor Treueschwüre auf den türkischen Diktator Erdogan leisteten. Was in Nordsyrien geschah, ist nichts anderes als ein Völkermord, eine weitere brachiale Zerstörung der einst so reichhaltigen Kultur des Mittleren Ostens. Und die derzeitige Umsiedlungspolitik ist deren unmittelbare Folge.

Verlassen von der Weltgemeinschaft

Es sind die Opfer dieser Kriegsverbrechen, die jetzt Zuflucht auf Lesbos suchen. Fallengelassen von der Weltgemeinschaft, verkauft von der NATO, verraten vom russischen Despoten Putin, der mit dem syrischen Regime gemeinsame Sache macht. Die Situation auf der Insel ist – fernab der Touristenzentren, je näher man an das größte Flüchtlingscamp namens Moria kommt – schlichtweg schockierend.

Überall, auch außerhalb der Einrichtung, kampieren Menschen wild in notdürftigen Zelten. Das offizielle Camp ist hoffnungslos überfüllt. Betrachtet man Moria von außen, kommt einem gewiss nicht in den Sinn, dass es sich hier um eine sichere Zufluchtsstätte für Menschen handelt, geschweige denn, dass man sich auf dem Boden der EU befindet. Die Szenerie ähnelt eher einem Gefängnislager: Wachtürme, hohe Zäune, Stacheldraht, Flutlichtmasten, bewaffnete Kontrollposten.

Die Flüchtlinge sind in den Zeltstädten kaum vor Übergriffen geschützt (Bild: Tobias Huch)
Die Flüchtlinge sind in den Zeltstädten kaum vor Übergriffen geschützt (Bild: Tobias Huch)

Innerhalb des Camps ist die Situation pausenlos angespannt; es zählt längst das Recht des Stärkeren. Frauen und Kinder leben in ständiger Gefahr vor Übergriffen. Insbesondere Kurden und die religiöse Minderheit der Jesiden gelten als Freiwild.

Denn auch die die Terrorgruppe IS, das ist Fakt, ist im Lager vertreten und hat hier eine ständige Präsenz; Berichte über Folterräume machen immer wieder die Runde. Mehrere inzwischen geflohenen ehemalige Insassen des Camps bestätigten diese Gerüchte im Gespräch mit Yahoo! Nachrichten; teilweise wurden die Horrorschilderungen von der Realität noch übertroffen.

Brutale Angriffe im Camp

Die Bewohner von Moria haben Angst, das Camp nicht zu überleben. Vor allem während des Ramadan gab es zahlreiche brutale Überfälle auf Kurden, Jesiden und Christen, weil diese tagsüber nicht fasteten, es kam zu körperlichen Angriffen und blutigen Messerattacken. Videos davon kursieren im Netz zuhauf.

Es war uns möglich, mit mehreren der Personen, die in den Videos als Opfer identifizierbar sind, persönlich zu sprechen. Ihre Erzählungen sind schockierende Zustandsbeschreibungen einer humanitären Katastrophe, die da – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – auf europäischem Boden stattfindet. (Hinweis: Ein ausführliches Interview mit einem der Betroffenen folgt.)

Doch es gibt auch Hoffnung. Ein Lichtblick für viele Menschen in Moria sind die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer. Einer von ihnen ist der dänische Aktivist Salam Aldeen, Gründer des „Team Humanity“. Aldeen und sein Team sind für den diesjährigen Friedensnobelpreis nominiert. Sie haben seit 2015 tausende Menschen aus den oft eiskalten Fluten des Meeres geborgen; manche retteten sie direkt aus dem Hafenbecken von Mithymna.

Salam Aldeen (rechts) gehört zu den bekanntesten Helfern auf der Insel (Bild: Tobias Huch)
Salam Aldeen (rechts) gehört zu den bekanntesten Helfern auf der Insel (Bild: Tobias Huch)

Aldeen, das merkt man ihm an, geht das Erlebte unheimlich an die Substanz; er versucht, seine Eindrücke durch Humor zu verarbeiten. Seine Anekdote um den Sprung ins Hafenbecken gehört dazu: Eines Abends saß er beim Essen und wollte sich vom täglichen Stress erholen, als er die Hilferufe einer Gruppe Menschen auf einem kleinen Schlauchboot hörte. Das Boot war direkt ins Hafenbecken getrieben worden, an Bord waren auch kleine Kinder.

Aldeen zögerte keine Sekunde, ließ alles stehen und liegen und sprang beherzt ins tiefschwarze Wasser. Mit Leibeskräften gelang es ihm, das Boot an die Kaimauer zu ziehen. Seit diesem Vorfall sprang er noch unzählige weitere Male ins Wasser, auch weitab der Küste und unter Lebensgefahr, um Boote zu sichern und entkräftete Flüchtlinge zu retten. Inzwischen betreibt Salam Aldeen direkt gegenüber des Camps eine mobile Küche, etliche Freiwillige unterstützen ihn dabei.

Tatkräftig gegen die Hoffnungslosigkeit

Er sammelt Spenden aus aller Welt, um Lebensmittelpakete und Trinkwasser auszugeben. Fehlt etwas im Camp, ist er für viele erster Ansprechpartner. Doch die tägliche Sisyphusarbeit entmutigt ihn nicht, im Gegenteil. Er hat schon neue Projekte: Als nächstes will er in der Nachbarhalle einen großen Kinderspielplatz errichten. Stolz führt er uns durch die Halle, zeigt die Pläne, seine Augen strahlen. Dieser Spielplatz wird nicht nur den Kindern von Moria helfen. Er wird auch Salam Aldeen helfen, das Grauen aufzuarbeiten, das er in den letzten drei Jahren miterleben musste.

Trotz des Engagements von Menschen wie Aldeen bleibt die Situation auf Lesbos prekär, und angesichts des nicht endenden Zustroms von Menschen und der nach wie vor unbefriedeten Situation im Nahen Osten wird sich daran wohl so schnell auch nichts ändern. Es wäre allerdings viel zu simpel, der griechischen Regierung oder der Inselverwaltung von Lesbos die Schuld für die desaströse Situation zu geben. Sie tun gewiss ihr Möglichstes, aber sie sind mit den Verhältnissen heillos überfordert.

Der Autor packt bei der Hilfsgüter-Verteilung mit an (Bild: Tobias Huch)
Der Autor packt bei der Hilfsgüter-Verteilung mit an (Bild: Tobias Huch)

Schuld sind die Fluchtursachen – und dies bedeutet in erster Linie die verantwortlichen Täter, deren Politik die Menschen auf ihre lebensgefährliche Reise nach Europa getrieben hat: Der syrische Präsident Assad, der russische Staatschef Wladimir Putin und der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan. Diese drei Despoten sorgen täglich für neue Flüchtlinge, für neues Leid. Und die Europäische Union schaut nicht ihnen dabei nicht nur seelenruhig zu, sondern schreckt vor jeder Art von Intervention zurück.

EU stützt die Despoten

Die Despoten hält sie am Leben, bestärkt sie in ihren Ämtern, Erdogan beglückwünscht sie zur Wiederwahl und fördert ihn nun mit noch mehr EU-Milliarden – während sie die Menschen auf Lesbos im Stich lässt. Damit sind nicht nur die Flüchtlinge gemeint, sondern auch die Griechen, deren Land am stärksten von den Folgen des Zustroms betroffen ist.

Griechenland ist restlos überfordert mit der Situation; mehr Solidarität Europas wäre gerade gegenüber diesem gebeutelten und bettelarmen Krisenland angebracht. Euro-Krise hin oder her. Europa braucht die Griechen – und jeder in Griechenland investierte Cent ist sinnvoller angelegt als auch nur ein Euro in der Kasse des Diktators Erdogan, der aus seinem schmutzigen, menschenverachtenden Flüchtlingsdeal mit Europa mörderisches Kapital schlägt.