"Die Story im Ersten": Die unglaublichen Fehler im Fall Lügde
Die Dokumentation in der ARD über den Fall Lügde ist eine düstere, die unter dem Brennglas die zahlreichen Fehler verantwortlicher Institutionen aufzeigt. Polizei, Jugendamt, Kinderhilfe oder Kinderschutzbund: Sie alle reichten Zuständigkeiten weiter und haben es so ermöglicht, dass es mutmaßlich in hunderten Einzelfällen zu sexuellen Übergriffen auf Kindern kam: „Lügde – Die Kinder, die keiner schützte.“
„In den ersten Nächten hat er mich nur in den Arm genommen. Dann hat er angefangen, mich anzufassen. Irgendwann hat er gefragt: ‚Willst du mal wissen, was die Erwachsenen machen?‘ Dann hat er‘s gemacht. Ich habe dabei geweint. Aber er hat gesagt, dass es gleich aufhört und hat weitergemacht.“ Mit diesen Worten, die sich tief einschneiden beim Zuhören, beginnt die Dokumentation in der ARD „Lügde – Die Kinder, die keiner schützte“ von Marko Rösseler, Nina Reckemeyer und Britta von der Heide.
Es ist ein beklemmender und verstörender Film über Andreas V., der von Freunden und zahlreichen Kindern nur „Addy“ genannt wird. Denn er zeigt auf, wie ungestört und unkontrolliert der wohl pädophile Addy seine minderjährigen Opfer über Jahre hinweg missbraucht haben soll. Die ARD schreibt über ihn: „Er lebt auf einem Campingplatz in Lügde-Elbrinxen im Weserbergland. Er schart Kinder um sich, macht mit ihnen Ausflüge, gibt Nachhilfe, Schwimmunterricht, kauft ein Pony. Seine einfache Behausung gleicht einem Abenteuerspielplatz, Übernachtungsgäste im Kindesalter sind willkommen.“
Über 400 Missbrauchstaten, 28 Nebenkläger
Addy ist mittlerweile in Untersuchungshaft und angeklagt. Doch er hat mutmaßlich jahrelang ungestört von Institutionen – deren Aufgabe es eigentlich ist, die Schwächsten unserer Gesellschaft zu schützen – Kinder missbraucht. Wobei: „Ungestört“ reicht nicht aus. Während mehrere Hinweise bei Polizei und Jugendamt eingehen, dass der Angeklagte pädophil sei, gibt das Jugendamt ein Kind in seine Obhut.
Am Donnerstag beginnt nun laut „Süddeutsche Zeitung“ der Prozess gegen ihn und zwei weitere Angeklagte vor dem Landgericht Detmold. Zwei der Angeklagten werden mehr als 400 Missbrauchstaten vorgeworfen. Inzwischen gibt es 28 Nebenkläger, die von 18 Rechtsanwälten vertreten werden. Das jüngste Opfer Addys ist drei Jahre alt.
Die Machart des Films ist typisch für eine Investigativ-Recherche: Verfremdete Protagonisten, um deren Identitäten zu schützen, geben nachgesprochene Erlebnisberichte. Die könnten kaum beklemmender sein, wie das Eingangszitat beweist. Bebildert werden die 45 Minuten vornehmlich mit relevanten Schauplätzen aus der Recherche, wie dem mittlerweile entvölkerten Campingplatz oder menschenleeren Kinder-Spielplätzen. Dazwischen Animationen, die Kinderzeichnungen ähneln und Assoziation wecken sollen.
Zahlreiche Hinweise - keine Untersuchung
Auch Vertreter aller beteiligten Einrichtungen kommen zu Wort: Polizei, Politik, sämtliche Ämter. Nur der Angeklagte oder sein Rechtsvertreter nicht – sie haben auf Anfragen des verantwortlichen Rechercheverbunds aus NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung nicht reagiert.
Viele Aussagen der Beteiligten sind dabei entlarvend, wie die eines Mitarbeiter des zuständigen Jugendamts, der sagt: „Auch Fachleute hatten keine Ahnung, dass es Übergriffe gegeben hat.“ Doch zu diesem Zeitpunkt füllten Addys Akte beim Jugendamt bereits zahlreiche Verdächtigungen und Hinweise auf seine mutmaßlich kriminellen Handlungen.
Erste Hinweise lagen dabei 20 Jahre zurück. Als ein vierjähriges Mädchen nach einem Besuch bei Addy gesagt haben soll: Penis lecken schmecke nicht. Es gab damals einen Akteneintrag. 2002 wiederholte der Vater des Mädchens den Vorwurf. Die Polizei vermerkte ihn in einer Liste möglicher Straftäter. Doch dabei blieb es.
2008 zeigten Mitarbeiter eines Kinderwohnheims Addy an, er habe einem Kind ein Handy mit obszönen Inhalten geschenkt. Die Staatsanwaltschaft wird nicht aktiv.
2016 ruft ein Vater beim Kinderschutzbund an und äußert den gleichen Verdacht. Dort sitzt eine Frau, die sofort handelt und die Polizeidienststelle informiert. Doch die überprüft Addy nicht. Die alten Akteneinträge fallen nicht auf.
Nur Hinweise. Keine Beweise.
Das Kind, das in die Obhut von Addy gegeben wird, sagt während eines Termins beim Jobcenter, sie könne Männerschweiß nicht mehr riechen. Die Mitarbeiterin meldet den Vorfall dem Jugendamt. Das schickt zwei Mitarbeiterinnen zum Campingplatz. Doch Addy besänftigt sie. Nichts geschieht. Wenige Wochen später wiederholt die Mitarbeiterin des Jobcenters ihren Verdacht, beim Kinderschutzbund. Der meldet es der Polizei. Die dem Jugendamt. Das fragt die Familienhilfe. Die meldet: keine Anzeichen. Irgendwo landet ein Vermerk in irgendeiner Akte. Das ist der Zeitraum, in der Addy die Vollzeitpflege für das Mädchen übertragen wird. Ein Mitarbeiter des Jugendamts sagt: „Das waren ja nur Hinweise. Kein Beweis. Man hätte da genauer hinsehen müssen.“
Zuletzt ist es eine Frau, deren Tochter die Anklage wiederholt. Die Mutter lässt nicht locker. Es kommt zur Verhaftung. Die Polizei untersucht die Parzelle von Addy. Sie geht dabei wohl höchst unsystematisch vor. Selbst bei der vierten Untersuchung findet sie noch eine Webcam, einen Vibrator, Jacken mit Kindernamen, ein Poesiealbum, eine Spindel mit Daten-CDs. Bei der ersten Untersuchung bereits findet die Polizei einen Koffer voller DVDs. Ein Anwärter soll diese sichten. Er beginnt. Doch dann: Auf bislang ungeklärte Weise geht der Koffer verloren. Er wird nie wieder gefunden. Sechs Mal wird die Parzelle Addys durchsucht. Dann kommt ein Abbruchunternehmen. Und findet immer noch Videokassetten. Die von der Polizei unentdeckt blieben.
Mittlerweile ist dem lange Jahre untätigen Polizeipräsidium die Verantwortung entzogen worden. Das Innenministerium Nordrhein-Westfalens hat zudem Polizisten entlassen. 80 Beamte der Polizei Bielefeld ermitteln nun. Auch gegen Mitarbeiter des Jugendamts. Auch gegen Kollegen.
Guter, fairer Journalismus
Es ist eine tiefgründig recherchierte, dunkle Dokumentation, die zahlreiche Fragen aufwirft. Wie konnte es soweit kommen? Deren Aufarbeitung und Beantwortung aber wird noch lange dauern. Zum jetzigen Zeitpunkt aber zeigt sie vor allem eins: Was guten Journalismus ausmacht. Es ist eine aufwendige Recherche, über ein relevantes Thema, das aktueller nicht sein könnte. Sie zeigt mutmaßliches Staatsversagen. Und bleibt bei alledem fair: Denn sie gibt allen Beteiligten die Chance, zu Wort zu kommen.