Doku über "Hass gegen Queer": "Die sichtbare Gewalt ist nur die Spitze des Eisbergs"
Die Hasskriminalität gegen Angehörige der LGBTQIA+-Bewegung nimmt in ganz Europa zu. In der ARD-Doku "Hass gegen Queer" erzählen Betroffene ihre Geschichte. Regisseur Tristan Ferland Milewski im Gespräch zu Empowerment, Privilegien und der gesellschaftlichen Abwertung von Weiblichkeit.
Von Mobbing im Netz über Ablehnung in der eigenen Familie bis zu brutalen Attacken in aller Öffentlichkeit: In der schonungslosen ARD-Doku "Hass gegen Queer" (Mittwoch, 19. Juli, 22.50 Uhr, ARD, und bereits jetzt in der ARD-Mediathek) berichten Angehörige der LGBTQIA+-Community von Hasskriminalität im Netz und auf der Straße. Regisseur Tristan Ferland Milewski kommt selbst aus der Community und setzt sich in seinen Filmen viel mit der Hinterfragung gesellschaftlicher Normative auseinander. Im Interview spricht er über diskriminierende Strukturen, die Tücken einer vermeintlich progressiver werdenden Gesellschaft und das Empowerment der Betroffenen.
teleschau: Herr Ferland Milewski, warum lag Ihnen dieser Dokumentarfilm so am Herzen?
Tristan Ferland Milewski: In Medien und Politik wurde in letzter Zeit so viel über queere Personen gesprochen, aktuell wird viel über trans Personen diskutiert. Ich finde wichtig, dass wir queeren Menschen endlich unsere eigenen Geschichten erzählen. Nach wie vor wird in den Medien meist noch von der Mehrheit über die Minderheiten berichtet. In "Hass gegen Queer" kommen die marginalisierten Personen selbst zu Wort.
teleschau: Es sind Geschichten, die betroffen machen. War es für die Protagonist:innen eine Überwindung, sich zu öffnen, oder mehr ein Bedürfnis?
Ferland Milewski: Das eine schließt das andere nicht aus, für die Personen war es beides. Natürlich ist da eine Verletzlichkeit. Sich vor die Kamera zu stellen und die eigene Geschichte zu erzählen, ist aber auch eine Form von Empowerment. Denn es geht darum, sichtbar und laut zu werden.
teleschau: Waren die Gespräche im Film eine Form der Trauma-Bewältigung?
Ferland Milewski: Traumatisch sind die Erlebnisse auf ihre Art natürlich alle, da kommen auch Emotionen hoch. Zwischen mir als Filmemacher, dem Team und der Person, die vor der Kamera steht, ist es immer eine Begegnung. Das Gespräch wirkt als Katalysator: Alles wird noch mal reflektiert, auch der Schmerz. Es ist mir wichtig, zu zeigen, dass die sichtbare Gewalt nur die Spitze des Eisbergs ist. Es geht auch um die Gewalt, die zunächst nicht so sichtbar ist, alltägliche Mikroaggressionen und eine gesellschaftliche Grundstimmung. All dies bildet die Grundlage für die physische Gewalt.
"Uns wird vermittelt, dass an der Spitze der weiße, heterosexuelle cis-Mann steht"
teleschau: Dabei könnte man den Eindruck haben, dass unsere Gesellschaft progressiver wird.
Ferland Milewski: Auf der einen Seite finden queere Themen im Mainstream mehr statt und werden diskutiert, auf der anderen Seite werden diese auch für politische Polemik benutzt und in der vermeintlich freien westlichen Welt steigt die Zahl der Gewaltdelikte gegen queere Menschen immer noch stetig an. Dadurch, dass queere Themen öffentlicher werden, wird es gleichzeitig unsichtbarer, dass die Diskriminierung strukturell immer noch in der Gesellschaft verankert ist.
teleschau: Geht es im Kampf der LGBTQ-Community nur noch um den Erhalt des Status Quo?
Ferland Milewski: Ich glaube, es herrscht eine Illusion: Da queere Menschen sichtbarer werden, denken viele: "Mensch, es ist doch schon alles erreicht. Ihr seid ja überall, was wollt ihr eigentlich noch?" Dabei merkt man genau daran, wie viel noch zu tun ist, schließlich sind die Diskriminierung und die Gewalt immer noch da.
teleschau: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Ferland Milewski: Ich denke schon, dass das auch etwas damit zu tun hat, dass sich Menschen in ihren Privilegien bedroht fühlen, wenn andere für ihre Rechte einstehen. Dabei wird ja niemandem etwas weggenommen. Wir alle haben unbewusste Vorurteile. Die meisten Menschen sind nicht bewusst queerfeindlich, auch nicht bewusst rassistisch oder ableistisch, haben aber eben diese Strukturen verinnerlicht. Zudem nehmen wir oft unsere eigenen Privilegien nicht wahr. Dies führt dazu, dass die Erfahrungen der Mehrheit oft als universell wahrgenommen werden und die Erfahrungen der Minderheit als individuelle Befindlichkeit oder gar Empfindlichkeit.
teleschau: Inwiefern prägen Privilegien unsere Gesellschaft?
Ferland Milewski: Wir teilen binär ein in Mann - Frau, schwarz - weiß, queer - hetero, und damit gehen immer auch Hierarchien und Bewertungen einher. Um Tessa Ganserer zu zitieren: Uns wird - ob bewusst oder unbewusst - vermittelt, dass an der Spitze der weiße, heterosexuelle cis-Mann steht. Alles darunter ist vermeintlich weniger wert. So hat auch ein schwuler weißer cis-Mann mehr Privilegien als eine Schwarze trans Frau. Es ist ganz interessant, dass zu Beginn der queeren Befreiungsbewegung die weißen schwulen cis-Männer als erstes wahrgenommen wurden.
"Gesellschaftlich wird alles, was als weiblich gilt, abgewertet"
teleschau: Im Film werden auch Überschneidungen mit Sexismus sichtbar.
Ferland Milewski: Ja, gesellschaftlich wird alles, was als weiblich gilt, immer noch abgewertet. Beispielsweise wird vielen schwulen Männern schon früh gesagt, sie seien "keine richtigen Männer", sondern "zu weiblich". Und weiblich ist dann negativ konnotiert. Den Sexismus oder auch den Rassismus in der Gesellschaft kriegen wir ja alle mit, und den internalisieren wir. Auch die Bewegung selbst ist nicht frei davon. Eine Mikrogesellschaft spiegelt die große Gesellschaft immer auch wider.
teleschau: Eine Reaktion darauf ist die sogenannte Ballroom-Community. Was zeichnet sie aus?
Ferland Milewski: Im Prinzip sind das Räume, in denen du gefeiert wirst für das, was du bist. Die Szene ist wie eine Familie, die zusammenhält, und das hat eine unglaubliche Kraft. Für mich sind Ballrooms "Energieballungsräume", Schutzräume für Personen, die in der Gesellschaft, vielleicht aber auch in der Community selbst, Diskriminierung erfahren. Im New York der 60er- und 70-er Jahre waren das vor allem Schwarze, indigene und trans Personen. Inzwischen gibt es unter anderem in Berlin eine große Community.
teleschau: Welche Folgen hat die Internalisierung der Diskriminierung für queere Personen selbst?
Ferland Milewski: Wenn man zu einer Gruppe gehört, deren Diskriminierung man selbst internalisiert hat, kann das dazu führen, dass es schwieriger ist, sich selbst anzunehmen, sich zu outen und sich selbst zur Wehr zu setzen. Es ist auch ein Prozess, zu sagen: "Ich muss nicht so sein, wie die Mehrheitsgesellschaft das von mir erwartet." Das muss man sich auch erkämpfen.
teleschau: Haben sich die Schwerpunkte im Kampf um Gleichstellung verändert?
Ferland Milewski: Sowohl die LGBTQIA+-Bewegung als auch die Gesellschaft sind in ständigem Wandel, und es ploppen neue Fragen auf, die auch für populistische Zwecke genutzt werden. Wie zum Beispiel aktuell: Gibt es zwei oder mehr Geschlechter? Da wird dann trans Frauen ihr Geschlecht abgesprochen, und es wird behauptet, sie planten in Umkleidekabinen sexuelle Übergriffe auf cis-Frauen. Dabei zeigt die Statistik: Die eigentlichen Täter sind meist cis-Männer, und die Gewalt findet zum großen Teil im eigenen Heim statt. Doch das zugrunde liegende Motiv, nämlich das der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, ist immer das gleiche.
"Wir sollten den Mund aufmachen"
teleschau: Ist Social Media ein Brandbeschleuniger?
Ferland Milewski: Die Gewalt im digitalen Raum ist jedenfalls stark angestiegen. Es handelt sich um Kommunikationsmedien, bei denen die Hemmschwellen sinken, Hetze sich ungefiltert verbreiten kann und Bubbles sich bestärken. Nach aktuellen Befragungen haben etwa 60 Prozent der queeren Menschen schon Angriffe auf Social Media erlebt. Es gibt natürlich auch Gruppierungen, die im Netz sehr aktiv und organisiert dabei sind, Hass zu verbreiten: etwa Rechte oder die sogenannten TERFS (Trans-ausschließende Radikalfeministinnen, d. Red).
teleschau: Kommt die Polizei ihrer Schutzfunktion nur ungenügend nach?
Ferland Milewski: So wie es in der Gesellschaft Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit gibt, gibt es sie auch in der Polizei. In immer mehr Städten gibt es Queerbeauftragte, aber wenn du Hasskriminalität erfährst und jemanden rufst, kommen natürlich die Personen, die gerade Dienst haben. Betroffenen kann es passieren, dass sie dann als Beteiligte einer Schlägerei behandelt werden, nicht als Opfer von Hasskriminalität, oder dass sie eine queerfeindliche Bemerkung abbekommen. Es gibt einen Grund dafür, dass es eine Dunkelziffer von 80 bis 90 Prozent gibt, in denen Hasskriminalität nicht zur Anzeige gebracht wird. Zwar wird schon viel getan, aber die Sensibilität bei der Polizei muss auf jeden Fall zunehmen.
teleschau: Mangelt es auch an Zivilcourage?
Ferland Milewski: Ich denke, dass es immer wichtig ist, nicht zuzugucken, sondern einzugreifen. Solange der Hass und die Vorurteile von der Mehrheit stillschweigend angenommen werden, ändert sich nichts: Egal, ob es nur ein queerfeindlicher Spruch ist oder eine Person tatsächlich körperlich angegangen wird, egal ob im Netz, beim Familientreffen, auf der Straße, am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn, wir sollten den Mund aufmachen.