Im eisigen Reich der Erlkönige: Autotests am Polarkreis
Arjeplog (dpa/tmn) - Wenn Männer wie Holger Enzmann oder Carsten Jablonowski aktuell die Koffer für ihre Dienstreisen packen, dann kramen sie eher nach dicken Socken als nach Krawatten.
Und statt der Lederslipper kommen Moonboots ins Gepäck. Beide sind Ingenieure aus der Autoindustrie und wieder auf dem Sprung an den Polarkreis.
Jahr für Jahr die gleichen Szenen vor allem im schwedischen Arjeplog, aber auch im finnischen Ivalo und in anderen Gemeinden im hohen Norden Skandinaviens: Ab Dezember fallen Hunderte, bisweilen sogar Tausende Spezialisten mit ihren Prototypen ein.
Hier wollen sie die kommenden Autoneuheiten oft Jahre vor der Markteinführung auf Herz und Nieren prüfen. Die sogenannten Erlkönige sind meist bis zur Unkenntlichkeit mit Plastikplanken und psychedelischer Folie getarnt. Sie werden in stoischer Routine über Tausende von Kilometern über einsame Landstraßen getrieben - oder über mal griffig aufgeraute, mal spiegelglatt polierte Parcours auf dem dicken Eis zugefrorener Seen.
«Das gehört bei uns fest zum Entwicklungsprogramm», sagt Mercedes-Mann Holger Enzmann. Er verantwortet die elektrische Oberklasse-Familie der Schwaben und schickt seine Prototypen im besten Falle sogar zwei Winter in Folge ins Eis. «Im ersten, um alles auszuprobieren und einzustellen, und im zweiten dann, um noch einmal alles zu überprüfen.»
Vom Fensterheber bis zum Fahrwerk - alles im eisigen Härtetest
Beteiligt an diesen Tests sind laut Carsten Jablonowski aus der Audi-Mannschaft nahezu alle Gewerke. Die Arbeit im Eis sieht allerdings oft spektakulärer aus, als sie tatsächlich ist.
Denn während die Erlkönige auf Film und Fotos oft meterlange Schneeschleppen nach sich ziehen und mit hohem Tempo den Schneewalzer tanzen, sind viele Runden ohne Kameras stumpfe Routine: «Wir tasten uns gaaanz, gaaanz langsam an den Grenzbereich heran, tasten und schlittern deshalb oft tagelang nur im Schritttempo übers Eis.»
Viel Trubel - und Geschäft
Zwar hat die Pandemie mit ihren Lockdowns und Reisebeschränkungen die Entwickler gelehrt, noch mehr Arbeit in die Klimakammern daheim im Werk oder gleich ganz auf den Rechner zu verlagern. «Doch am Ende muss das Auto ins Eis und in den Schnee, damit wir es guten Gewissens in die Serie entlassen können,» sagt Holger Enzmann.
Das werden die Menschen der 2000 Seelen-Gemeinde gerne hören. Der Ort ist von den Autoentwicklern in gewisser Weise anhängig. Denn außer Forstwirtschaft, ein wenig Bergbau und an paar Angelurlaubern im Sommer gibt es nicht viel, was den Gemeindehaushalt stützt.
«Dass wir eine vergleichsweise gute Infrastruktur haben, eine kleine Gastro-Szene und eine so internationale Auswahl im Supermarkt, das verdanken wir den Erlkönigen und ihrem Gefolge», berichtet der ehemalige Bürgermeister Bengt-Urban Fransson. Und es macht die Lektüre der Autopresse überflüssig, sagt Fransson: «Denn bevor wir neue Autos irgendwo in der Zeitung oder im Internet sehen, stehen sie hier schon bei uns vor dem Supermarkt oder an der Tankstelle.»
Jagdfieber im Eis
Kein Wunder, dass mit den Testern auch die sogenannten Erlkönigjäger an den Polarkreis reisen. Fotografen, die sich auf das «Erlegen» der Prototypen spezialisiert haben und mit dem ersten Schuss oft viel Geld verdienen. Und auch kein Wunder, dass die Entwickler sich über die anhaltende Dunkelheit freuen.
Zwar schlägt es bisweilen ein wenig aufs Gemüt, wenn es wochenlang nicht hell wird, räumt Mercedes-Entwickler Enzmann ein. Aber zusammen mit der ausgeklügelten Tarnung der Prototypen-Bauer macht das den Spionen mit ihren Kameras die Arbeit entsprechend schwer.
Der Herr der Eismaschinen
Einer der Wegbereiter der Wintertests ist Lars Sundström - und das kann man wörtlich nehmen. Denn Sundström ist ein Icemaker und präpariert die Teststrecken auf den mit Eis von mindestens 30 und bis zu 120 Zentimetern Dicke bedeckten Seen.
Schon in den ersten Wintertagen haben er und seine sicher über 100 Kollegen und Kolleginnen damit begonnen, Kreisbahnen und Handlingstrecken anzulegen, die mit Satellitenpeilung genau vermessen und deshalb jedes Jahr absolut identisch nachgebaut werden.
Während der Saison rücken sie oft schon morgens um vier Uhr aus, um den Erlkönigen bei minus 20 Grad den weißen Teppich auszurollen. «Dabei ist es mit einer Eissorte nicht getan», sagt Sundström und spricht von sehr kritischen Anforderungen der Autohersteller.
«Für sie müssen wir das Eis bürsten, polieren oder mit riesigen Rauben aufrauen. Wir ziehen auf den Millimeter genau Rillen oder können die Haftung der Reifen mit zusätzlichem Wasser vermindern und mit Sand erhöhen», erläutert er die Möglichkeiten seines gewaltigen Fuhrparks.
Doch kaum schmilzt der Schnee, schmilzt auch die Bedeutung der Gemeinde. Und mit jeder Maschine, die von dem kleinen Flughafen im benachbarten Arvidsjaur abhebt, wird es wieder ruhiger und beschaulicher auf dem Silvervägen und dem Storgatan.