Emma Drogunova im Interview: "Es herrscht ein gewisser Täterschutz"

In der Romanverfilmung "Nichts, was uns passiert" spielt 
Emma Drogunova eine Studentin, die in einer Partynacht betrunken von einem Freund vergewaltigt wird. 
 (Bild: WDR / Gaumont / Thomas Kost)
In der Romanverfilmung "Nichts, was uns passiert" spielt Emma Drogunova eine Studentin, die in einer Partynacht betrunken von einem Freund vergewaltigt wird. (Bild: WDR / Gaumont / Thomas Kost)

Sie war der "European Shooting Star" bei der Berlinale 2019: In "Nichts, was uns passiert" spielt die 1995 in Russland geborene Emma Drogunova eine Studentin, die offenbar vergewaltigt wurde. Ein Gespräch über Täterschutz und victim blaming, das Gendern und den Krieg in der Ukraine.

Emma Drogunova wurde 1995 in Russland geboren. Dass sie in "Nichts, was uns passiert" (Mittwoch, 1. März, im Ersten, sowie seit 22. Februar in der ARD Mediathek) eine Ukrainerin spielt, ist Zufall: Schon im Roman von Bettina Wilpert war die Protagonistin Anna Ukrainerin. Im Interview zum Film kommt der Krieg dennoch zur Sprache: "Ich habe schon immer viele politische Entscheidungen Putins als sehr unmenschlich und falsch empfunden", sagt die 27-Jährige. Der Ukraine spricht sie deshalb ihre "volle Solidarität" aus. Das Hauptthema des Interviews ist allerdings ein anderes: Drogunovas Filmfigur Anna wurde von einem Freund aus der Uni vergewaltigt. Zumindest glaubt Anna das, ganz sicher ist sich das TV-Publikum von "Nichts, was uns passiert" bis zum Ende nicht.

Auch im realen Leben ist die Rechtslage bei einer Vergewaltigung oft schwierig: Viele Opfer scheuen sich, die Tat anzuzeigen, kommt es doch zum Prozess, steht Aussage gegen Aussage. Im Interview spricht Emma Drogunova, die unter anderem in der Koproduktion "Wild Republic" von MagentaTV, ARTE, WDR, SWR und ONE zu sehen war, über diese Schieflage, über Täterschutz und victim blaming. Außerdem verrät sie, warum Kritik am Gendern für sie eine "komische" Diskussion ist.

teleschau: Wie oft haben Sie den Satz "Geh nicht mit fremden Männern mit" als Kind gehört?

Emma Drogunova: Den Satz direkt jetzt vielleicht nicht so häufig, aber klar hat man das immer schon mitbekommen, dass man als Mädchen noch mal extra doll auf sich aufpassen soll. Mein Bruder wurde wahrscheinlich nicht so stark indoktriniert wie ich. Natürlich ist das Ziel heutzutage, Jungs und Mädchen gleich zu erziehen. Aber in den 1990-ern und 2000-ern war genderneutrale Erziehung ja noch nicht wirklich Thema. Es war schon so, dass ich gehört habe: Mein Bruder soll auf mich aufpassen. Er war zwar auch älter, dennoch habe ich gespürt, dass mir nicht so viel zugetraut wurde oder dass bei mir eine größere Gefahr gesehen wurde, dass beim Spielen draußen irgendetwas passiert.

teleschau: Die Erziehung spielt auch im Film eine große Rolle: Die Mutter des potenziellen Täters bezeichnet ihn als Feminist: Welchen Einfluss hat die Erziehung tatsächlich auf das spätere Verhalten als Täter oder Opfer?

Drogunova: Ich glaube, es gibt verschiedene Gründe, warum jemand zum Täter oder zur Täterin wird. Sicherlich kann es helfen, wenn es schon in die Erziehung einfließt, dass man sensibler sein und Grenzen erkennen lernen sollte. Aber wir alle laufen ein Stück weit Gefahr, Grenzen von jemandem zu überschreiten, auch wenn wir das gar nicht wollen oder uns das gar nicht bewusst ist - auch, weil eben diese Diskussion über das richtige Herstellen von Konsens bis vor kurzem noch gar nicht existiert hat.

teleschau: Was können künftige Generationen bei der Erziehung ihrer Kinder in dieser Hinsicht besser machen?

Drogunova: Ich kenne mich jetzt nicht so gut mit Kindererziehung aus (lacht). Aber ich denke, es fängt damit an, dass man Kindern von klein auf Feinfühligkeit und Verantwortung mit den eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer beibringt. Der Film zeigt gut, dass es meistens eben nicht so einfach ist, gut und böse zu unterscheiden und zu sagen, was passiert ist und wie es passiert ist. Deshalb ist es wichtig, schon früh mit Prävention zu starten.

In "Nichts, was uns passiert" erzählen Anna (Emma Drogunova, links) und ihre Freunde (im Bild: Amina Merai) ihre jeweils eigene Sicht auf die Ereignisse. Wer dabei Recht hat, wird bis zum Schluss des Films nicht ganz klar.  (Bild: WDR / Gaumont / Thomas Kost)
In "Nichts, was uns passiert" erzählen Anna (Emma Drogunova, links) und ihre Freunde (im Bild: Amina Merai) ihre jeweils eigene Sicht auf die Ereignisse. Wer dabei Recht hat, wird bis zum Schluss des Films nicht ganz klar. (Bild: WDR / Gaumont / Thomas Kost)

"Ich finde es wichtig, einen Raum für Betroffene zu schaffen"

teleschau: Viele Opfer sexueller Gewalt scheuen sich, die Tat zur Anzeige zu bringen. Woran liegt das?

Drogunova: Naja, da muss man sich einfach nur die Rechtslage ansehen: In vielen Fällen steht Aussage gegen Aussage. Die Anklage wird dann oft fallen gelassen, weil einfach nicht genügend Beweise, Zeuginnen oder Zeugen existieren. Unsere Gesellschaft hat aus meiner Sicht die Tendenz, der Person, die von einer Vergewaltigung erzählt, nicht zu glauben, sondern die Schuld bei ihr zu suchen. Ich finde es wichtig, einen Raum für Betroffene zu schaffen, in dem sie sich sicher und ernst genommen fühlen können.

teleschau: Ist das Problem des victim blaming bei einer Vergewaltigung größer als bei anderen Straftaten?

Drogunova: Ja, ich finde, es ist enorm. Das sieht man auch in öffentlichen Fällen, wie selten die Opfer geschützt werden, und wie oft stattdessen die Leute, denen ein sexueller Übergriff vorgeworfen wird, geschützt werden. Dann heißt es: "Ja, die Frau möchte doch nur fame oder Aufmerksamkeit. Das ist doch gar nicht so passiert." Bei Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, kommen solche Argumente aus der Fanbase. Aber auch bei anderen Personen kann es sein, dass sich Freunde und Bekannte die Tat nicht vorstellen können. Es herrscht also ein gewisser Täterschutz.

teleschau: Was müsste passieren, dass sich diese Einstellung künftig ändert?

Drogunova: Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Das fragen sich alle. Das Wichtigste ist, über derartige Fälle zu sprechen und aufzuhören, so zu tun, als wäre es kein gesellschaftliches Problem, das jeden treffen kann.

Die Debatte ums Gendern ist ebenfalls Teil von "Nichts, was uns passiert". Hauptdarstellerin Emma Drogunova sagt dazu im Interview: "Meistens habe ich das Gefühl, dass die Leute, die dagegen sind, in Diskussionen das größte Trara machen." (Bild: WDR / Gaumont,)
Die Debatte ums Gendern ist ebenfalls Teil von "Nichts, was uns passiert". Hauptdarstellerin Emma Drogunova sagt dazu im Interview: "Meistens habe ich das Gefühl, dass die Leute, die dagegen sind, in Diskussionen das größte Trara machen." (Bild: WDR / Gaumont,)

"Es ist sehr gut, dass die Debatte im Scheinwerferlicht steht"

teleschau: Hat sich die Wahrnehmung des Themas seit "#MeToo" nicht schon sehr verändert?

Drogunova: Über die Jahre hat sich auf jeden Fall viel getan. Es ist sehr gut, dass die Debatte im Scheinwerferlicht steht und dass sich immer mehr Betroffene trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Denn das hilft wiederum anderen Menschen, denen etwas Ähnliches passiert ist, Mut zu fassen. Aber die Entwicklung passiert sehr langsam.

teleschau: Wie hat sich Ihr Blick auf die MeToo-Debatte durch die Arbeit am Film verändert?

Drogunova: Ich habe viel dazugelernt: Ich habe viele Bücher zu dem Thema gelesen und mich eher wissenschaftlich damit beschäftigt. Ich glaube, dass ich mein Schwarz-Weiß-Denken auch ein bisschen abgelegt habe. Die Komplexität des Themas wurde mir durch den Film viel mehr bewusst. Es ist wichtig, dass wir den Betroffenen mehr glauben, denn nur eine Minderheit der Anzeigen erweist sich als falsch. Gleichzeitig ist es wichtig, zu überlegen, was die Konsequenzen einer solchen Tat sind: Wie verurteilt man die Tat? Und wie verhält sich ein Täter oder eine Täterin im Anschluss?

Emma Drogunova wurde am 29. Oktober 19955 in Tjumen, Russland geboren. Aufgewachsen in Berlin sammelte sie früh Schauspielerfahrung. Unter anderem war sie mehrmals im "Tatort", in der Dramaserie "Wild Republic" und in dem Spielfilm "Vielmachglas" (2018) mit Jella Haase und Matthias Schweighöfer zu sehen.  (Bild: 2019 Matthias Nareyek / Getty Images for KXXK)

"Das Thema ist ohnehin Teil von meinem Alltag"

teleschau: Haben Sie als Vorbereitung auf die Rolle auch mit Betroffenen gesprochen?

Drogunova: Nein, es war mir sehr wichtig, niemanden zu retraumatisieren. Am Ende des Tages ist es auch nur ein Film. Mir persönlich war es wichtig, Menschen nicht nur für Recherchezwecke aufzuwühlen. Das hat sich für mich irgendwie perfide angefühlt. Allerdings glaube ich, dass wir alle mindestens eine Person kennen, der so was oder etwas Ähnliches passiert ist. Oder man hat vielleicht sogar selber so etwas erlebt. Somit musste ich leider keine große Recherche betreiben, weil das Thema ohnehin Teil von meinem Alltag ist.

teleschau: Wie sind Sie während der Dreharbeiten mit der sicher enormen psychischen Belastung umgegangen?

Drogunova: Ich hatte eine Supervision durch eine Psychotherapeutin, mit der ich mich einmal pro Woche unterhalten habe, um Raum für meine eigenen Gedanken zu haben. Für die intimen Szenen hatten wir am Set eine Intimacy-Koordinatorin, die das alles gemanagt hat. Und die Regisseurin Julia C. Kaiser war eine große Unterstützung, weil sie unglaublich sensibel war und mir viel Platz für meine Anregungen und Ideen gelassen hat. Das alles hat mir geholfen, die Rolle nach Drehschluss abzustreifen. Aber ich habe auch viele Vorkehrungen getroffen, um mich von meiner Rolle abzugrenzen: Ich habe im Vorfeld viel darüber nachgedacht und klare Unterschiede zwischen mir und meiner Figur hergestellt.

teleschau: Kritische Stimmen sagen, Vergewaltigungen in Deutschland würden zu milde bestraft. Wie stehen Sie zu dieser These?

Drogunova: Ich kann und will darüber gar kein Urteil fällen: Sexuelle Übergriffe - das ist so ein weites Feld. Ich glaube, es gibt Fälle, in denen man Vergewaltigung so hart bestrafen könnte wie Mord. Aber genauso gibt es Fälle, in denen eine andere Strafe oder Therapiemaßnahme eventuell sogar besser wären. Man muss die Einzelfälle differenziert betrachten. Aber generell würde ich eher dazu tendieren, dass Vergewaltigung zu sanft bestraft wird, weil immer noch nicht angekommen ist, mit welcher Last Betroffene nach der Tat durchs Leben gehen.

Emma Drogunova findet es wichtig, über Vergewaltigungen zu sprechen "und aufzuhören, so zu tun als wäre es kein gesellschaftliches Problem, das jeden treffen kann", sagt sie im Interview. (Bild: 2019 Andreas Rentz / Getty Images for EFP)
Emma Drogunova findet es wichtig, über Vergewaltigungen zu sprechen "und aufzuhören, so zu tun als wäre es kein gesellschaftliches Problem, das jeden treffen kann", sagt sie im Interview. (Bild: 2019 Andreas Rentz / Getty Images for EFP)

Gendern "als Zeichen für mehr Menschlichkeit"

teleschau: Neben der Vergewaltigung werden im Film auch andere gesellschaftsaktuelle Themen wie Geschlechtsidentität und gendersensible Sprache diskutiert. Wie wichtig ist dieser Diskurs gerade in der heutigen Zeit?

Drogunova: Ich empfinde diese Diskussion als ganz komisch, weil ich mir denke: Es kostet dich ja nichts, so viele Leute wie möglich in deine Sprache miteinzubeziehen. Viele argumentieren damit, der Sprachfluss ginge verloren oder die Sprache werde verhunzt. Aber so sehe ich das gar nicht: eher als Zeichen für mehr Menschlichkeit, Vielfalt und Toleranz. Als Frau profitiere ich definitiv davon, denn ich fühle mich mehr gesehen, wenn gegendert wird. Natürlich gibt es Menschen, die das anders sehen - fair enough. Ich habe selbst Momente, in denen ich das Gendern vergesse. Aber meistens habe ich das Gefühl, dass die Leute, die dagegen sind, in Diskussionen das größte Trara machen. Das finde ich etwas albern. Man muss sich damit abfinden, dass sich Sprache auch verändert.

teleschau: Sie wurden in Sibirien geboren, die Figur, die Sie im Film verkörpern, ist Ukrainerin. Hatten Sie vor dem Hintergrund des derzeitigen Kriegs deshalb Bedenken, die Rolle anzunehmen?

Drogunova: Um ehrlich zu sein nicht, nein, da es für mich klar ist, dass ich der Ukraine meine volle Solidarität ausspreche und für Frieden und Unabhängigkeit stehe. Ich habe schon immer viele politische Entscheidungen Putins als sehr unmenschlich und falsch empfunden, beispielsweise das Verbot "Homosexueller Propaganda" gegenüber Minderjährigen, das seit 2013 in Kraft ist, und auch dieser Krieg geht in keiner Weise mit meinen moralischen Einstellungen konform. Einem Land aus politischer Machtgier seine Souveränität abzusprechen und Tausenden von Menschen ihre Sicherheit oder gar das Leben zu nehmen ist einfach zu verurteilen. Die Ukraine ist ein starkes Land, und die Menschen kämpfen für ihre Freiheit, wobei wir sie weiterhin unterstützen sollten. Von daher bin ich sehr stolz, dass ich eine Ukrainerin spielen durfte, und ich hoffe, dass mir die Rolle niemand übel nimmt. Aber ich bin gewillt, dazuzulernen: Wenn es Gründe gibt, warum ich das nicht hätte spielen sollen, dann darf man mich gerne aufklären. Denn das ist auch Teil dieses ganzen Prozesses - dass man nicht die Augen und Ohren verschließt und sagt: "Ich weiß schon alles. Ich bin so woke und weiß über alles Bescheid." Denn das ist einfach nicht der Fall: Wir alle lernen ständig dazu. Und wenn mich jemand politisch aufklären kann und möchte, ist das ein großes Geschenk, welches ich gerne annehme.