"Die ersten Gutmenschen des Wilden Westens": Vor 60 Jahren eroberte "Bonanza" die deutsche TV-Prärie
Wäre der Wilde Westen tatsächlich so, wir würden hinreiten! "Bonanza", Mutter aller Westernserien, war eine Lüge, aber eine sehr romantische. Am 13. Oktober 1962, vor genau 60 Jahren, wurde die moralin-, testosteron- und bleilastige Familiensaga rund um die Cartwrights zum ersten Mal im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt.
Nein, es hätte vermutlich nicht noch einen US-Präsidenten Donald Trump gebraucht, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Wilde Westen auch nicht mehr das ist, was er einmal war. Sehr wahrscheinlich war der Wilde Westen schon immer eine Illusion. Eine große Lüge, die gut genug war, um über Jahrzehnte hinweg alle möglichen romantischen Sehnsüchte hineinzuprojizieren zu können. Der Wilde Westen war ja zum Glück vor allem eines: unendlich weit entfernt - an Jahren und Meilen, und er lud Filmemacher und andere Realitätsflüchtlinge gerade deshalb seit jeher zur Verklärung ein. Einmal Cowboy sein, so cool und frei, das wär's - ganze Generationen von kleinen und großen verhinderten Helden träumten davon, wenn sie zum Zelten fuhren oder sich auch nur mal im Freien eine Marlboro ansteckten. Denn damals im Westen, dort, wo Männer noch Männer waren, war das Leben unkompliziert. Es schmeckte nach Staub, Whisky, Kautabak und, so wurde es hinreichend kolportiert, nach Blei. Es war hart, aber fair. Und "Indianer" waren Indianer.
Dieser mythische Westen, er hatte, jedenfalls in der fiktionalen Darstellung, etwas Archaisches, den testosteronlastigen Dünkel einer dreitagebärtigen Aufrichtigkeit, die es in der modernen Welt nicht mehr gibt. - So durfte man das zumindest bis vor 15, 20 Jahren noch sehen. Heute ist bekanntlich alles anders. Die Welt ist enger geworden, schneller, komplexer. Es wird immer und überall ganz genau hingehört und hingeschaut, während gleichermaßen die Wahrhaftigkeit an Boden verliert. Schein und Behauptung regieren die Welt, das Leben findet vielfach auf Instagram und Facebook statt, und so einen Stetson kann sich längst jeder schmierige Anzugträger auf den Kopf setzen.
Auch der Politiker Trump ist oft genug mit einem überdimensionierten Cowboyhut zu sehen. Doch beileibe nicht nur aufgrund des Wirkens jenes Mannes, dessen Präsidentschaft im Januar 2021 endete, ist diese Form des Eskapismus, der Blick in die nach wie vor dünn besiedelten Weiten des Westens der Vereinigten Staaten aus aufgeklärter mitteleuropäischer Sicht ein wenig problematisch geworden. Wenn man zum Beispiel über eine monumentale Fernsehserie wie "Bonanza" spricht, die dem Wilden Westen ein zwar hoffnungslos verkitschtes, aber gewiss nicht illegitimes Denkmal gesetzt hat, landet man neuerdings schnell auf heiklem Terrain: Wie steht's da mit der Frauenrolle? Was wäre zum Thema Rassismus und zum Umgang mit den indigenen Ureinwohnern zu sagen? Und überhaupt, for god's sake!, was ist mit dem Waffenrecht? - Sind die legitimen Erben jener Zeit nicht alles ballerwütige Rednecks?
Immer langsam mit den jungen Pferden, und lassen wir den Colt erst mal im Halfter. Die Frage ist nämlich schon auch, ob man sich den Traum vom Wilden Westen so mir nichts dir nichts nehmen lassen muss. Und den John Waynes, Richard Widmarks, Robert Mitchums und all den anderen Heldendarstellern ihren Legendenstatus. Und ob es nicht auch heute noch Sinn machen könnte, sich an die Meriten einer TV-Serie zu erinnern, die Geschichte schrieb und über 14 Staffeln hinweg Lektionen in Moral weltweit frei Haus verteilte. "Bonanza" wurde vor genau 60 Jahren, am 13. Oktober 1962, zum ersten Mal im "Deutschen Fernsehen" gezeigt und avancierte auch hierzulande zur bekanntesten Western-Serie aller Zeiten. Und das nicht ohne Grund.
"Hoss" war ein Mann, wie es keinen besseren geben kann
Die Protagonisten lebten auf einer Ranch namens "Ponderosa", hießen Cartwright, waren aber besser bekannt unter ihren Rufnamen: Ben, Adam, Little Joe und Hoss. Sie standen mit ihren Chaps breitbeinig füreinander ein und waren rechtschaffene Vertreter einer viele Millionen Dollar schweren Viehzüchter-Dynastie und gleichzeitig auch gewisser Grundwerte, die, sagen wir es ruhig, wie es ist, so lange eine Selbstverständlichkeit waren, wie sich die Menschen noch in die Augen sahen, also genau so lange, bis Social Media auch das verändert hat. Gefühlte Wahrheiten und alternative Fakten waren für sie keine Option, nicht unter den Ehrenmännern des "Bonanza"-Westens. Sie ätzten nicht in Internetblasen über ihre Mitmenschen, sondern sie lebten in der Realität.
Von 1959 bis 1973 sorgten die Cowboys - und nicht zu vergessen die vielen schrulligen Nebenfiguren wie Hauskoch "Hop Sing" - bei Generationen von Europäern für die allererste Berührung mit dem Themenkomplex "Wilder Westen". Lang ist's her, Kinder. In den 90-ern gab es im US-Fernsehen zwar den einen oder anderen Wiederbelebungsversuch, aber zumindest hierzulande ist die Legende weitgehend in Vergessenheit geraten. Schön, dass das kleine "Pierrot Le Fou"-Label die alten Folgen ausgrub und sie hierzulande in den "Nullerjahren" nach und nach auf DVD veröffentlichte. Im TV gab es immer mal Wiederholungsstrecken - etwa bei Kabel Eins oder SAT.1 Gold. An eine Neuauflage hat sich keiner je herangewagt - vielleicht aus Respekt vor dem Original.
Sicher, es gab, vor und nach "Bonanza", viele große Westernserien. Da waren "Am Fuß der Blauen Berge", "Rauchende Colts", "Die Leute von der Shiloh Ranch", "High Chaparral" oder auch taffere moderne Produktionen à la "Deadwood" ... - alle gut gemacht, manche witziger, andere spektakulärer. Aber wenn man heute über Cowboys in Serie spricht, dann meint man immer "Bonanza", nie etwas anderes. Insgesamt war "Bonanza" 14 Jahre on air mit 431 Episoden. Bis weit in die 80-er hinein, so lange liefen in aller Welt die Wiederholungen, kannte die Serie jedes Kind. "Bonanza", das war Familienfernsehen - auch wenn die ARD manche Folge anfangs für zu brutal gehalten und die Serie deswegen vorübergehend abgesetzt haben soll (das ZDF übernahm 1967). Nun, die Zeit relativiert so vieles. Heute würden die moralinsauren Geschichten der politisch super-korrekten Good-white-guys-WG schlicht und einfach nicht mehr in die Zeit passen. Soll man sagen, leider?
Was ist geblieben von "Bonanza"? Selbst Kult-Regisseur Robert Altman, der für einige frühe Folgen verantwortlich zeichnete, sprach bis zu seinem Tod 2006 so gut wie gar nicht mehr, und wenn, dann eher despektierlich, darüber. Dabei hatte "Bonanza" einst eine geradezu kulturhistorische Tragweite, die bis ins Banale reichte.
Fangen wir beim Kinderfasching an: Wenn kleine Cowboys durch den Saal galoppieren, kommt dazu immer noch das weltberühmte "Bonanza"-Thema aus den Lautsprechern (auch wenn es bei derartigen Veranstaltungen nun keine kleinen Indianer mehr gibt).
Weiter geht's in die Kleingartenkolonien der Republik, wo viele der mit Holzbrettern ausgekleideten Wirtschaften nach wie vor den Namen "Ponderosa" tragen: die Bier-Klause als gefühlte Ranch, das vielleicht letzte Refugium für Männer - präzise: alte, weiße Männer, wie diese Spezies heute mithin gescholten wird.
Und schließlich ist da "Hoss" - zunächst nicht die vom unvergesslichen und 1972 viel zu früh verstorbenen Dan Blocker gespielte tragikomische Cowboygestalt, sondern nur deren Name: "Hoss", so hieß damals so ungefähr jeder dicke Junge mit Spitznamen, und noch heute ist's ein gerne genommener wie gefürchteter Nick für, sagen wir gemütlichere Buben - wohl oft genug ohne, dass diese wüssten, auf wen dieses "Hoss" überhaupt zurückgeht ...
Darum sei's gerade ihnen noch einmal gesagt: "Hoss" war verdammt noch mal großartig. Ein Sohn. Ein Cowboy. Ein Mann, wie es keinen besseren geben kann. Gutmütig, bärenstark. Etwas einfach gestrickt vielleicht, aber was machte das schon aus, Mitte des 19. Jahrhunderts, dort im Westen, in Nevada nahe Carson City, am tatsächlich grandiosen Lake Tahoe, waren keine IT-Spezialisten oder Atomphysiker gefragt, sondern ein moralischer Kompass.
Ausgerechnet am vielleicht schönsten See-Ufer der Welt erlebt "Hoss" (Dan Blocker war schon Jahrzehnte vor Kevin James der Inbegriff des beleibten, bodenständigen Sympathieträgers) seine Katharsis. Dort, im Mondenschein, macht der alte Romantiker einer viel zu hübschen jungen Dame einen herzzerreißenden Heiratsantrag. Aber sie, wie töricht, will erst noch die große, weite Welt sehen, gerät schließlich in die Arme eines Hochstaplers, der sie schwängert und nicht etwa in die Welt, sondern nur ins kaum 100 Meilen entfernte San Francisco schleppt, wo sie alsbald, kurz vor der Niederkunft, elend verreckt.
Genau das war der Stoff, aus dem die Träume (und Albträume) in "Bonanza" waren. Moral und Unmoral prallten meist mit tödlichem Ausgang aufeinander. Großes Drama, aber eine dreiviertel Stunde musste dafür reichen. Die Botschaft war ohnehin schon in den Fels der Prärie gemeißelt: Die Welt ist böse, aber immerhin sind da noch Leute wie die Cartwrights. Und man ahnte: So lange es solche Menschen gibt, ist nicht alles verloren. Sie waren hart, aber stets gerecht, fest im Familienclan verhaftet und für den zeitlichen Kontext erstaunlich tolerant gegenüber Minderheiten wie den indigenen Ureinwohnern und asiatisch gelesenen Menschen. Sie spendeten ihr hart erarbeitetes Geld oft genug den Armen, und sie waren irgendwie ziemlich öko, achteten mit peinlicher Fürsorge auf all das Vieh, Wasser und Gras zwischen ihren Weidezäunen. Greta Thunberg würde diese Cartwrights mögen.
Ja, die Cartwrights waren die ersten Gutmenschen des Wilden Westens. Etwas eindimensionale, politisch überkorrekte, aber charakterfeste Role Models für Generationen amerikanischer Landeier. - Sie waren genau so, wie sich mancher gute, weiße Amerikaner mit provinziellem Hintergrund wohl heute noch gerne sehen würde. Was einen zu kühnen, hypothetischen Spielereien verleiten könnte: Was würde zum Beispiel ein Donald Trump von dieser Sippe halten? Und natürlich erst recht: Wie würden die Cartwrights den blonden Brachial-Dealmaker wahrnehmen?
"Law and order" in der tolerabelsten Form
Bleiben wir lieber bei der Fiktion und ihren Protagonisten. Bei Menschen wie dem weisen Ben (der Schauspieler Lorne Greene verstarb 1987), dem Übervater, dem Mann, der das Leben kennt und auf alles eine Antwort weiß: "Wenn sich einer ein Bein gebrochen hat", sagt er einmal zu seinem jüngsten und zweifellos attraktivsten Sohn Little Joe (Michael Landon, "Unsere kleine Farm", "Ein Engel auf Erden", er ist 1991 verstorben), "dann kann man ihm helfen und es zusammenflicken. Aber ein gebrochenes Herz muss ein Mann selbst heilen." Ja, muss er wohl.
Überhaupt, über das, was ein Mann so alles können, tun und lassen muss, wussten die Jungs ziemlich gut Bescheid. Jede Folge eine Lektion in Moral und Demut. "Law and order" in der tolerabelsten Form. Nur, so viel Ehrlichkeit lässt so eine Hommage schon zu, bei den Kenntnissen über Frauen taten sich gravierende Lücken auf. O-Ton Hoss: "Frauen sind wie wilde Pferde. Man muss eine Weide haben, bevor man sie fängt" ... Aber nicht täuschen lassen: "Bonanza" war damals beim weiblichen Publikum besonders beliebt. Was auch mit einem gewissen Pernell Elvin Roberts zu tun hat. Der Name des 2010 verstorbenen Schauspielers mag heute kaum einem mehr etwas sagen, aber in den 60er- und 70er-Jahren war Roberts ein Frauenschwarm und Superstar - dank seiner Rolle in "Bonanza", in der er den integersten und wohl auch klügsten Cowboy aller Zeiten gab. Roberts spielte den Cartwright-Spross Adam als überlegenen, oft auch ironischen und erstaunlich feinsinnigen Helden, der im Konflikt das Wort der Waffe vorzog.
Keine Frage, Produzent, Autor und Erfinder David Dortort kreierte mit "Bonanza" den romantischen Traum von einer guten, vielleicht besseren Welt. Einer Welt jedoch, wie sie am ehesten noch im Kinderfasching existiert, sofern die Kinder da überhaupt noch mit einem Plastik-Schießeisen um sich ballern dürfen. Dürfen sie? Aber egal, es ist wohl sowieso eine Welt, die es weder in Amerika und schon gar nicht für ein paar bierselige Stunden in teutonischen Kleingartenkolonien je gab, sondern nur eine kitschige Wild-West-Utopie. Aber träumen wird ja noch erlaubt sein!