Ex-Stasi-Mitarbeiter wegen Mordes angeklagt
Berlin (dpa) - Ost-Berlin zu Zeiten der DDR. Am belebtesten Grenzübergang zwischen Ost und West, dem Bahnhof Friedrichstraße, passiert ein Mann den Kontrollpunkt. Ein Schuss fällt. Er trifft den 38-Jährigen in den Rücken.
Zeugen berichten später von einem Zivilisten in einem dunklen Mantel und getönter Brille, der geschossen haben soll. Dennoch bleibt das Verbrechen jahrelang ungeklärt. Rund 49 Jahre später ist die Berliner Staatsanwaltschaft überzeugt, den Täter gefunden zu haben. Die hat einen Ex-Stasi-Mitarbeiter wegen heimtückischen Mordes angeklagt.
Der inzwischen 79-Jährige aus Leipzig soll an jenem 29. März 1974 den Polen am früheren Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße erschossen haben, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Laut Anklage soll der Sachse das 38 Jahre alte Opfer «mit einem gezielten Schuss in den Rücken aus einem Versteck heraus» getötet haben.
Erst nach Jahrzehnten Fortschritt bei Ermittlungen
Laut Staatsanwaltschaft sind die Ermittlungen über viele Jahre nicht vorangekommen. Erst 2016 habe es einen entscheidenden Hinweis zur Identität des Schützen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv gegeben, erklärte Sprecher Sebastian Büchner. Anders als heute sei man jedoch zunächst von einem Totschlag ausgegangen. In diesem Fall wäre die Tat verjährt gewesen. Knapp 34 Jahre nach dem Mauerfall sieht die Berliner Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt, wie der Büchner sagte.
Laut Anklage soll der Beschuldigte zur Tatzeit einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit angehört haben. Er soll mit der «Unschädlichmachung» des Polen beauftragt worden sein. Vorangegangen sein soll, dass der 38-Jährige in der polnischen Botschaft versucht haben soll, seine Ausreise nach West-Berlin zu erzwingen.
Die Stasi soll dann zum Schein entschieden haben, dem 38-Jährigen die Ausreise zu genehmigen. Dafür soll er auch die entsprechenden Ausreisedokumente bekommen haben und Ministeriumsmitarbeiter begleiteten ihn zum damaligen Sektorenübergang am Bahnhof Friedrichstraße. Als er dort jedoch am frühen Nachmittag des Märztages den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss.
Jahrelange Forschung zu dem Fall
Auf der Website «Chronik der Mauer» wird der Fall des Polen Czesław Kukuczka ausführlich beschrieben. Zusammengetragen wurden die Daten in einem gemeinsamen Projekt des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, der Bundeszentrale für politische Bildung, des Deutschlandradios und der Stiftung Berliner Mauer.
Die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter habe 1974 unverzüglich Vorermittlungen eingeleitet, heißt es auf der Website. Die Einrichtung, die Unrechtstaten in der DDR dokumentierte und Beweismittel sammelte, habe die örtliche Kriminal- und Polizeiinspektionen in West-Berlin befragt. Doch der Polizei sei der Fall nicht bekannt gewesen. Auch den drei Schutzmächten West-Berlins - Frankreich, England und USA - lagen demnach keine Informationen vor. In der DDR-Presse sei nichts zu dem Vorfall gemeldet worden. Im Westen war demnach ein Artikel in der «Bild»-Zeitung erschienen - sonst nichts.
Dreieinhalb Jahre später sei die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität bei einer systematischen Auswertung aller Obduktionsgutachten, in denen Schussverletzungen erwähnt wurden, dann auf den Fall von Kukuczka gestoßen.
Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Untergang der DDR und im Zuge der Ermittlungen wegen der Gewalttaten an der Berliner Mauer, griff die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall vermutlich routinemäßig auf Grund der Salzgitter-Akte wieder auf - ohne Ergebnis. Auch weitere Ermittlungen enden schließlich im Dezember 2005 mit einer Einstellung des Verfahren.
Fall nie zu den Akten gelegt
Der Fall sei aber nie komplett zu den Akten gelegt worden, erklärte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Zuletzt seien schließlich Ermittlungen in Polen Anlass gewesen, die Unterlagen erneut anzuschauen.
Der Prozess gegen den früheren Stasi-Mitarbeiter soll nun vor dem Landgericht Berlin verhandelt werden. Zunächst muss jedoch eine Kammer darüber entscheiden, ob die Anklage zugelassen wird. Ausschlaggebend wird dabei sein, ob das Gericht der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgt und ausreichend Hinweise für einen Mordverdacht sieht.
Zahlreiche «Mauerschützenprozesse» in Berlin
Das Berliner Landgericht hat nach dem Mauerfall Geschichte geschrieben mit Prozessen zu den Toten an der innerdeutschen Grenze. Im ersten sogenannten Mauerschützenprozess, der im September 1991 vor dem Landgericht Berlin begann, ging es um die Tötung des letzten Opfers der deutschen Teilung, das nur neun Monate vor der Öffnung der Grenzen sterben musste - Chris Gueffroy.
Bis zum vorerst letzten Prozess im Jahr 2004 wurden 130 Personen rechtskräftig verurteilt - vom einfachen Mauerschützen bis zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Militär. Die höchste Strafe bekam DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler mit siebeneinhalb Jahren Gefängnis.