Familien im Bunker: Alltag in Israel

Tobias Huch berichtet aus Israel für die Yahoo-Redaktion

Wie fühlt es sich momentan an, mitten im Krieg unter ständiger Bedrohung in Israel zu leben? Reporter Tobias Huch schildert seine Eindrücke für die Yahoo-Redaktion aus Tel Aviv und kommentiert die Lage vor Ort.

Das Israelische Raketenabwehrsystem
Das Israelische Raketenabwehrsystem "Iron Dome" fängt die meisten Geschosse aus Gaza ab. (Bild: REUTERS/Amir Cohen)

Tel Aviv, es ist kurz vor 21.30, ein lauer Abend. Ich sitze auf dem Bett meines allzu klein geratenen Zimmers in Tel Aviv-Jaffa. Eine schöne Gegend. Gleich vor der Tür befindet ein Espresso- und Süßspeisenhäuschen. Wenn man hier morgens einen besseren Kaffee als den im Hotel genießen will, muss man allerdings alle Augen offenhalten, um nicht von einem Radfahrer überfahren zu werden - denn von denen flitzen hier sehr viele umher und das schneller, als man denkt. „Radfahrer und Raketen“, denke ich so bei mir. Den Gedanken verwerfe ich jedoch sofort wieder, hier ist jeder Vergleich unangebracht. Eine Kassam-Rakete der Hamas zerstört ganze Häuserzeilen mit allen darin befindlichen Bewohnern. Dann doch lieber die Radfahrer!

Keine harmlosen Feuerwerkskörper

In Europa werden diese Raketen der Hamas von ahnungslosen Menschen quasi als größere Feuerwerkskörper abgetan. Das aber sind sie in keinem Fall – auch wenn der Iron Dome viele von ihnen abwehrt. Es sind hochgefährliche Sprengsätze, nicht gut steuerbar, aber von monströsem Zerstörungspotential. Es sind tödliche Waffen, die übrigens vor allem in Gaza selbst unzählige Todesopfer fordern, weil fast ein Drittel bereits über palästinensischem Gebiet abstürzt; so war es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei dem weltweit vermeldeten berüchtigten Raketeneinschlag auf dem Parkplatz eines Krankenhauses in Gaza. „Seriöse“ Leitmedien wie CNN, BBC, New York Times und der Deutschlandfunk bemühten sich in den ersten Stunden, primitivste Hamas-Propaganda zu verbreiten: „500 Tote – Israel beschießt Krankenhaus!“ Ein schierer Schwachsinn, den man leider jedoch nie wieder aus den Köpfen leichtgläubiger oder antisemitischer Menschen herausbekommt. Da hilft dann auch keine noch so aufwendige Entschuldigung der New York Times für das Verbreiten schierer Fake News.

Reporter Tobias Huch berichtet live für die Yahoo-Redaktion aus Israel.
Reporter Tobias Huch berichtet live für die Yahoo-Redaktion aus Israel.

Plötzlich Alarm im Hotelzimmer

Nun sitze ich auf meinem Bett und sichte das Videomaterial der letzten zwei Tage: Sderot mit Blick auf Gaza-Stadt. Der internationale Medienzirkus. Ein zerstörter LKW. Ein Tag in Jerusalem. Plötzlich dreht mein Handy durch: Die Tzofar-App (Red Alert!) schlägt Alarm. “TZEVA ADOM! TZEVA ADOM!” („Alarm Rot! Alarm Rot“) brüllt es aus meinem iPhone und ich lese im Augenwinkel „Tel Aviv Jaffa“. Sofort runter vom Bett, rein in die Schuhe, alles stehen und liegen lassen. Schnell ins gepanzerte Treppenhaus, und dann mit anderen panischen Hotelgästen runter in den Bunker im Keller! Auf halbem Weg hören wir drei laute Explosionen. Der Iron Dome hat anscheinend Raketen abgefangen, doch weitere können auf dem Weg sein.

Im Bunker selbst hört man nicht mehr so viel – außer das aufgeregte Reden der anderen Gäste und das Weinen der Kinder, die sich bestimmt einen ruhigeren Sabbat gewünscht haben. Eltern versuchen sie zu beruhigen, aber das gelingt nicht. Diese isreaelischen Familien sind schon vor Wochen vor den Raketen nach Tel Aviv geflohen. Sie kommen aus dem hohen Norden, von der Grenze zum Libanon, wo auch die Hisbollah – gewissermaßen der „große Bruder” der Hamas - seinen Holocaust an den Menschen in Israel plant und regelmäßig Raketen auf Familien regnet lässt. Eine Stunde zuvor hatten sie noch alle in der Hotellobby an langen Tischen beisammengesessen und den Sabbat traditionell gefeiert; jetzt müssen sie im stark gepanzerten Untergeschoss eines Hotels kauern und hoffen, dass der Horror bald vorbei ist.

Hinter der schweren Metalltür des Bunkers sind die Hotelgäste einigermaßen sicher vor Raketeneinschlägen geschützt. (Quelle: Tobias Huch)
Hinter der schweren Metalltür des Bunkers sind die Hotelgäste einigermaßen sicher vor Raketeneinschlägen geschützt. (Quelle: Tobias Huch)

Der Medienkrieg der Hamas

Ich selbst komme mir irgendwie deplatziert vor. Als Journalist bin ich absichtlich nicht in den klassischen Presse-Hotels wie dem Hilton abgestiegen, denn dort bekommt man rein gar nichts mit vom Alltag in Tel Aviv und der wahren Situation der Menschen. Mit kinderreichen Familien im Luftschutzbunker zu sitzen ist leider ebenso einhundert Prozent Israel wie die Gefahr, beim Espressoholen von einem Radler überfahren zu werden. Es ist dieser israelische Alltag, über den die meisten Menschen in den westlichen – und erst recht in den arabischen – Medien nichts erfahren, von dem sie rein gar nichts wissen. Der Grund ist so simpel wie bitter: Die Hamas führt seit Jahren einen überaus erfolgreichen Medienkrieg mit einer Bildercollage aus echtem Leid, inszenierten Szenen und blanken Fake News; leider schafft sie es dadurch immer wieder, die passenden antisemitischen Vorurteile zu triggern, um Israel einmal mehr zu dämonisieren.

Die Welt mag es nicht, wenn Juden sich wehren. Jahrtausende lang hatten Juden die permanente Opferrolle inne. In ihrem Fall zu Recht: Die Römer haben sie vertrieben, man hat ihnen die Heimat geraubt. Der Religionsgründer Mohammed hat sie gehasst, weil sie sich ihm nicht unterwarfen. In Europa hat man ihnen die Schuld an allem gegeben. Am Ende haben die Deutschen die halbe jüdische Weltbevölkerung in einem industriellen Massenmord vernichtet.

Die Welt konnte sich nicht an wehrhafte Juden gewöhnen

Doch schon vor dem Holocaust hatten sich die Juden dafür entschieden, nicht länger der Prügelknabe der Weltgeschichte zu sein, und ihrer entschlossenen Weigerung Ausdruck gegeben, sich weiterhin einfach so vernichten zu lassen. Aus diesem neuen Selbstbewusstsein, dieser Wehrhaftigkeit und dem Wille zur Selbstbehauptung, die Ursprung der zionistischen Idee war, entstand schließlich der Staat Israel, im Zuge der Gebietsaufteilung des britischen Mandatsgebiets „Palästina“ zwischen Juden und Arabern. Doch die Welt konnte und wollte sich nicht an Juden gewöhnen, die sich wehren. So ist es bis heute geblieben. Bis heute sind die üblichen Verdächtigen empört, dass sich „der Jude“ nicht kampflos töten lässt. Man verlässt eben nur ungern alte Muster und Stereotypen – auch nicht in Deutschland, wo am 7. Oktober in Berlin-Neukölln, unter Freudentränen und zur Feier des Tages, Baklava verteilt wurde. 1.400 Stück Baklava für 1.400 hilflos abgeschlachtete Juden.

Eine App zeigt die Raketenalarme auf dem Smartphone an. (Quelle: Tobias Huch)
Eine App zeigt die Raketenalarme auf dem Smartphone an. (Quelle: Tobias Huch)

320 Mal Raketenalarm am Tag

So verwundert es nicht, wenn so gut wie niemand mitbekommt oder mitbekommen will, dass seit diesem Tag des Terrors zwischenzeitlich mehr als 9.000 Raketen auf Israel abgeschossen wurden. Raketen, die auch teils den Iron Dome durchbrechen können, wenn dieser temporär überlastet ist. Doch auch vom Iron Dome abgefangene Raketen sind weiterhin potenziell lebensgefährlich, da die tödlichen Metallsplitter herabstürzen und Menschen verletzen oder töten können. Deshalb bedeutet jeder Alarm die sofortige Flucht in die Bunker, wobei man wirklich alles stehen und liegen lassen muss; eine latente und ständige Dauerangst, die man sich im friedlichen Westen gar nicht vorstellen kann. 9.000 Raketen seit dem 7. Oktober: Das sind im Schnitt 320 Raketen pro Tag. 320 Mal Raketenalarm, 320 Mal am Tag müssen irgendwo in Israel Menschen in die Bunker fliehen. 320 Mal das Weinen von Kindern. Und 320 Mal die stetige Erinnerung daran, dass Jude zu sein heute mehr denn je bedeutet, Widerstand leisten zu müssen, um einem neuen Völkermord zu entgehen.

Im Video: Israelische Armee: Gazastreifen in nördliche und südliche Hälfte geteilt