FOCUS online vor Ort - Arm in Arm mit Holländern wird mir bewusst: Eine Rivalität gibt's nicht mehr!

100.000 Fans nehmen am Fanmarsch der Niederländer teil<span class="copyright">Getty Images</span>
100.000 Fans nehmen am Fanmarsch der Niederländer teilGetty Images

Holländische Fans sind das Highlight dieser EM. Unser Reporter Dominik Rosing hat eine große Verbundenheit zur Niederlande und beim Halbfinale endlich die Chance, die besondere Atmosphäre aufzusaugen. Es geht naar links und naar rechts. Dann fällt ihm auf: Eine Rivalität gibt es nicht mehr.

Es ist 09.09 Uhr. Vor meinem Fenster hält ein Fanbus, aus ihm dröhnt holländischer Hardstyle. Sie sind da, die Niederländer. Mit lauten „Oranje“-Rufen steigen die Herrschaften aus, nun wird die Dortmunder Innenstadt in Orange geflutet.

Dazu zählt auch der Hansaplatz. Dort ist mittwochs für gewöhnlich Wochenmarkt, auch heute. Aber sowas kennen die Holländer ja. Käse-Stände, Fischmärkte, Weinbuden, „la deutsche vita“. Normalerweise füllt der Deutsche die niederländischen Märkte, heute ist es andersrum.

Ein Leben an der Grenze

Ich komme gebürtig direkt von der Grenze, daher kenne ich die Sonntagsausflüge zu gut. Wir fahren „rüber“, heißt es dann bei uns im Westmünsterland immer so schön. Fünf Minuten habe ich von meiner Haustür auf die andere Seite gebraucht. Der Geruch von frischem Käse in der Nase, der Geschmack von Frikandel Spezial oder Loempias auf der Zunge. Herrlich.

Ich kann eine gewisse Zuneigung zu den Holländern nicht leugnen. In der Schule hatte ich Niederländisch-Unterricht. Godverdomme. Leider sprechen bei uns die Grenz-Holländer alle viel besser deutsch, daher habe meine Künste nur vereinzelt bei Camping-Trips an die Nordsee vorführen können.

Auch heute probiere ich hin und wieder meine vorzüglichen Sprachkenntnisse, nichtwissend, ob es wirklich niederländisch oder nicht doch schon plattdeutsch ist. „Duits?“, höre ich meistens als Antwort. Na gut, dann also deutsch…

Holländische Fans sorgen für die Bilder der EM

Als Reporter bin ich natürlich völlig neutral unterwegs, nur die Farbakzente in meinem Hemd verraten mich.

Orange, welch‘ scheußliche Farbe, wie ich finde. Heute aber nicht. Wenn die Holländer ihre Feste feiern, ist es so, als würde ein flammendes Meer über die Straßen ziehen.

Niederländischer Fantreff am Willy-Brandt-Platz in Dortmund<span class="copyright">AFP via Getty Images</span>
Niederländischer Fantreff am Willy-Brandt-Platz in DortmundAFP via Getty Images

Bereits die gesamte EM beeindrucken die Bilder der niederländischen Fans. Ob Hamburg, Leipzig, Berlin, München oder Dortmund – alles ist oranje. Und dann wird gesprungen. Erst naar links, dann naar rechts.

Ich war als DFB-Reporter unterwegs und sehnte mich danach, einmal bei diesem Turnier mitzuhüpfen zu können. In der Menge, Arm an Arm, Schulter an Schulter. Naar Links….naar Rechts…

Nun bin ich mittendrin. Fantreff am Willy-Brandt-Platz, im Schatten der Reinoldikirche. Ein DJ stimmt die Menge ein. Holländischer Techno wird mit holländischem Schlager gemischt. Viele Melodien sind bekannt, bedienen sich die Musiker deutscher und niederländischer Kunst doch gerne mal bei der anderen Seite.

Naar links, naar rechts

Lange muss ich nicht warten, bis sich einander eingehackt wird. „Allemaal van links naar rechts, de tent die wordt gemold“: Und los geht’s! Links, rechts, nog unne keer. Links, rechts! Und dann im Chor: Döp-Döp-Döp-Döp-Döp-Döp, Döp-Döp-Döp-Döp-Döp-Döp, Oh, wat 'n feest.

Beim anschließenden Fanmarsch zieht es 100.000 Menschen in Orange und mit Ohrwurm in Richtung Stadion und Westfalenpark. Ein beeindruckendes Bild. Dortmund, eine Fußballhochburg, hat nie einen größeren Fanmarsch gesehen. Es sind nicht nur Holländer, viele Deutsche mischen sich unter. Auch sie in Oranje, sie zeigen Flagge. Die Holländer haben unseren EM-Traum schließlich nicht beendet, sie haben sich viel mehr in unser Herz gehüpft.

Dortmund ist Orange! Videos zeigen niederländischen Ausnahmezustand

Wo ist die alte Rivalität geblieben? Was würde Rudi Völler sagen? Wo sind die Revanche-Gedanken für 1988? Ebenfalls eine Heim-EM, im Halbfinale war Schluss für Deutschland. Ausgerechnet gegen den kleinen Nachbarn. Marco van Basten, in der 88. Minute zum 1:2. Vier Tage später werden sie im Münchner Olympiastadion Europameister. Ihr einziger Titel bis heute.

Von deutsch-niederländischer Rivalität nichts mehr zu spüren

Bei uns im Dorf gab es immer holländischen Auto-Korso, wenn sie die direkten Duelle der Nationalmannschaften gewonnen haben. Bei deutschen Siegen ging es andersrum. Oft durften wir uns über unsere Nachbarn lustig machen. „Ohne Holland fahr’n wir zur WM“, dann „Ohne Holland fahr’n wir zur EM“, dann wieder „Ohne Holland fahr’n wir zur WM“.

Heute wäre es ein trauriger Tag, wenn die Holländer bei einem Großturnier nicht dabei sein würden. Sie haben diese EM bereichert, sie waren ein Spektakel.

100.000 Fans nehmen am Fanmarsch der Niederländer teil<span class="copyright">Anadolu via Getty Images</span>
100.000 Fans nehmen am Fanmarsch der Niederländer teilAnadolu via Getty Images

Nur Autofahren können sie nicht. Nein, wirklich! Das ist kein überholtes Vorurteil. „Siehst du Gelb auf schwarzen Grund, halte Abstand und bleibt gesund“, lehrte mich mein Fahrlehrer stets. Direkt bei meiner allerersten Autobahnfahrt kam mir ein Geisterfahrer entgegen. Ein Holländer. Das muss für alle Ewigkeit als Beweis ausreichen. Ich weiche vom Thema ab.

Denn es wird tatsächlich ein trauriger Tag. Die Niederlande verliert das EM-Halbfinale gegen England. Godverdomme. Aber was hat uns dieses Spiel wieder alles gegeben?

Wieder Wasserfälle im Dortmunder Stadion

Wasserfälle zum Beispiel. Schon wieder. Diesmal aber schon vor Anpfiff. Um 19.54 Uhr setzt starker Regen über dem Stadion ein, keine drei Minuten später strömt es an der Nordwest-Seite wieder von der Decke. Während ein englischer Fan die Wassermassen für seine tägliche Dusche nutzt, singen die Niederländer auf der Süd-Tribüne gegenüber. Alle feiern die erfrischende Abkühlung.

Erneut strömt ein Wasserfall vom Stadiondach auf die Ränge<span class="copyright">Anadolu via Getty Images</span>
Erneut strömt ein Wasserfall vom Stadiondach auf die RängeAnadolu via Getty Images

Die Wasserfälle werden mittlerweile zum Symbol für besondere Stadionmomente. Bei 3 von 6 Spielen war das hier in Dortmund der Fall. Deutsche Ingenieurskunst. Das Achtelfinale der DFB-Elf gegen Dänemark musste zwischenzeitlich unterbrochen werden, die Fans sangen zur Folge „Oh, wie ist das schön!“

Sportlich geht es naar links und naar rechts

Sportlich: Xavi Simons mit einem Traumtor. 1:0 für Holland. Harry Kane gleicht für England nach Videobeweis per Elfmeter aus. Das Stadion, ein Tollhaus. Beide Ränge geben Vollgas, überragende Atmosphäre.

Pfosten, Latte, Großchance links, Großchance rechts. Ich beginne auf meinem Sitz zu wippen.

Während sich alle auf die Verlängerung vorbereiten, schlägt England ein letztes Mal erbarmungslos zu. 90. Minute, Ollie Watkins. Das war’s! Es hat sich ausgehüpft.

Kopf hoch, liebe Holländer!

England zieht ins EM-Finale ein und hat am Sonntag gegen Spanien eine gigantische Chance, den Fußball nach Hause zu bringen, wie sie es seit Jahrzehnten besingen.

Für die Niederlande geht der Weg tatsächlich nach Hause. Aber Kopf hoch, liebe Holländer. Ihr habt dieser EM viel mehr gegeben. Aus einer ewigen Rivalität wurde eine deutsch-niederländische Freundschaft. Gemeinsam in Oranje. Wat 'n feest.