"Fordern nicht das Blaue vom Himmel": Melnyk spricht bei "Hart aber fair" über Kampfjet-Lieferungen
Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk war bei "Hart aber fair" aus Kiew zugeschaltet. Er erneuerte die Forderung nach weiterer militärischer Unterstützung, denn: "Dieser Krieg kann nur auf dem Schlachtfeld beendet werden." Die Ukraine rechne mit einer "internationalen Kampfjet-Allianz".
"Es gibt Tage ohne Luftalarm, an denen von außen alles ganz normal scheint", sagt Oleksandr Sintschenko. "Im Inneren sieht es anders aus. Seit dem 24. Februar ist in meinem Leben gar nichts mehr normal." Sintschenko ist Elektriker, Familienvater und lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Einmarsch russischer Truppen im Februar 2022 hat sein Leben auf den Kopf gestellt: Seit nunmehr einem Jahr ist der Alltag des Mannes von der Angst geprägt, dass eine Rakete seine Wohnung oder den Kindergarten seiner Töchter treffen könnte. Wie Sintschenko geht es vielen Menschen in der Ukraine, wie die Primetime-Dokumentation "Ukraine - Krieg im Leben" des ARD-Korrespondent Vassili Golod am Montagabend eindrücklich darlegte. Nichts ist mehr, wie es war. Für unzählige Ukrainer geht es um die blanke Existenz, während hierzulande weiterhin heftig über Waffenlieferungen, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges und die Krisenkommunikation der Regierung debattiert wird. Wo soll das alles noch hinführen? - Bei "Hart aber fair" im Ersten drehte sich ein weiteres Mal alles um diese Frage. Unter dem Titel "Putins Überfall, Europas Albtraum: Ein Jahr Krieg und kein Ende in Sicht?" ging es im Anschluss an die sehenswerte Doku teilweise hitzig zur Sache.
Wo die Emotionen hochkochen, lohnt es, sich immer wieder der Fakten zu vergewissern. Bei "Hart aber fair" tat dies am Montag nicht nur Gastgeber Louis Klamroth. Es schien so, als müssten sich alle Diskussionsteilnehmer immer wieder in Erinnerung rufen, worum es im grausamen Kern der Debatte wirklich geht. Reihum sagten sie es in unterschiedlichem Wortlaut immer wieder: Putin hat mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine Tatsachen geschaffen. Oder, wie es der Ukraine-Korrespondent Golod formulierte: "Putin hat diesen Krieg begonnen mit Erklärungen von einer möglichen Denazifizierung der Ukraine. Ich verstehe nicht, was er damit meint. Er hat zunächst davon gesprochen, Donezk und Luhansk befreien zu wollen. Dann hat er plötzlich weitere Regionen annektiert. Er greift im Westen der Ukraine an ..." Allen Verhandlungsversuchen zum Trotz habe Russland "mit dem 24. Februar gezeigt, dass es die Grenzen des Staates Ukraine nicht akzeptiert, dass es die Ukraine nicht als souveränen Staat akzeptiert." SPD-Europapolitikerin Katarina Barley sprach von einem "völkerrechtswidrigen, brutalen Überfall" und ergänzte: "Das war ein Angriff nicht nur auf die Ukraine, das war ein Angriff auf die Art, wie wir leben und auf die europäische Einheit."
Das war es dann schon mit der Einmütigkeit. Amira Mohamed Ali, die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, stand am Montagabend in der Runde mit ihrer Haltung zum Thema Waffenlieferungen zwar alleine da, aber dafür vertrat sie ihren Standpunkt umso heftiger. Sie schimpfte: "Wir sehen bis heute von Deutschland keine überzeugende diplomatische Offensive - im Gegenteil!" Mit den bisherigen Waffenlieferungen sei nicht erreicht worden, dass der Krieg endet. Und: "Was Deutschland nicht erreicht hat, ist, sich stark zu machen für Friedensgespräche. Das wäre aber notwendig gewesen."
Das wollte die direkt neben ihr platzierte Barley nicht unkommentiert stehen lassen: "Waffenstillstandsverhandlungen führen heißt, man sagt zu den einen: Hört auf, anzugreifen, und den anderen sagt man: Hört auf, euch zu verteidigen", warf die SPD-Politikerin ein und holte sie sich den Beifall des Publikums ab. Entlang genau dieser scharfen Kante wurde am Montagabend noch einige Male heftig entlangdiskutiert - vor allem zwischen Barley und Mohamed Ali ging es emotional zur Sache. Allerdings, wir sind bei "Hart aber fair", wurde vor der letzten Eskalationsstufe meistens noch rechtzeitig ein Vermittlungsversuch gestartet: "Es ist gar nicht so, das Diplomatie und Waffenlieferungen sich widersprechen. Sie müssen sich ergänzen", konstatierte etwa die Journalistin und Russlandkennerin Gesine Dornblüth - wieder gab es tosenden Applaus.
Auch Golod argumentierte in diese Richtung. Friedensinitiativen, wie sie zuletzt auch von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer angestrengt wurden, seien "zwar ehrenwert, aber sie sind an der Stelle völlig falsch - weil die Waffen der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf helfen". Er komme gerade aus der befreiten Region Charkiw. "Dort wurden Menschen gefoltert, Menschen getötet, Menschen vergewaltigt, es gab Deportationen."
Melnyk: "Internationale, globale Kampfjet-Allianz"
Höchste Zeit für eine Schalte nach Kiew, von wo sich Vizeaußenminister Andrij Melnyk zu Wort meldete - er tat dies in einem betont sachlichen, für seine Verhältnisse fast zurückhaltenden Duktus. "Das Thema Waffen, das jetzt so lebendig diskutiert wurde, ist der zentrale Punkt", hob er an, allerdings nicht, ohne direkt nachzuschärfen. "Dieser Krieg kann nur auf dem Schlachtfeld beendet werden", betonte der ehemalige Botschafter der Ukraine in Berlin und erklärte, seine Regierung gehe davon aus, dass eine "internationale, ja globale Kampfjet-Allianz geschmiedet wird". Deutschland könne als Teil dieser Koalition einen wichtigen Beitrag leisten, so Melnyk. "Wir fordern ja nicht das Blaue vom Himmel, sondern wir erbitten das, was unsere Partner in der Lage sind zu tun." Der Vizeaußenminister: "Deutschland verfügt über Tornados und Eurofighter, und auch andere Staaten haben diese Flugzeuge - und es gibt auch F-16-Flugzeuge ..."
Melnyk, der offenbar die bisherige Debatte interessiert mitverfolgt hat, befand: "Was Frau Ali hier vorschlägt, klingt harmlos." Es sei "leider so, dass Putin uns nach wie vor vernichten möchte. Dieses Ziel hat er nicht aufgegeben", rief er - vor einem Bücherregal sitzend, in dem unter anderem der Bestseller "Roter Hunger" der amerikanischen Historikerin Anne Applebaum liegt, in Erinnerung. Gefragt nach seinem Verhältnis zu Deutschland wurde der oft so scharfzüngige Melnyk regelrecht sanft: "Also, ich mag dieses Land - und daran hat sich auch nichts geändert. Das Schicksal von Deutschland ist auch mir und meiner Familie nicht egal." Deutschland habe einst mit der Lieferung von 5.000 Helmen begonnen und gehöre "heute zu den wichtigsten Verbündeten der Ukraine - und das ist gut so", unterstrich der Vizeaußenminister. Er glaube, "darauf können die Deutschen auch einmal stolz sein, was sie geleistet haben". Aber: "Die Zeit spielt leider gegen uns." Man habe keine Zeit, wieder lange abzuwarten. Denn Putin könne "jeden Monat 20 T-90-Panzer an die Front schicken". Melnyk: "Der Zeitfaktor ist entscheidend, und wir hoffen, dass die Bundesregierung jetzt keine roten Linien mehr zieht."
Hans-Lothar Domröse, Nato-General a.D., stimmte dem Gesagten zu. Schon zu Beginn der Sendung stellte er klar: "Es geht im Kern um das Überleben der Ukraine." Es sei zu "beobachten, dass Russland jede Woche ein, zwei Züge Militärgüter nach vorne bringt. Hunderte von Kampfpanzern! Sie haben 100.000 Reservisten an der Front eingesetzt, weitere 100.000 ausgebildet, eine zweite Teilmobilmachung vorbereitet." Nun ergänzte er, aus, wie er betonte, militärischer Sicht, dass es zum Eingreifen und Aufklären an der 1.500 Kilometer langen Frontlinie Kampfjets brauche: "Da können Sie sich nicht schnell bewegen mit dem Panzer, das dauert ja Tage."
Was man von dem Geschehen in der Ukraine in Russland mitbekomme, wollte Louis Klamroth schließlich noch von Ina Ruck wissen. Die ARD-Moskau-Korrespondentin, zugeschaltet aus der russischen Hauptstadt, zeichnete ein durchaus ernüchterndes Bild. Gerade in den Metropolen gehe das Leben weitgehend noch seinem gewohnten Gang. Das habe natürlich auch mit der Propaganda und der umfassenden Überwachung seitens des Staates zu tun. Selbst wenn man Menschen, die im Krieg einen Angehörigen verloren haben, spreche, so Ruck, bekomme man Erstaunliches zu hören: "Die sagen dann: 'Er hat sein Leben für das Land gegeben. Und das war nötig, denn es ging gegen die Faschisten.'" Die Parallele vom "großen vaterländischen Krieg" werde von der Regierung und dem Staatsfernsehen immer wieder bemüht - und das verfange offenbar. "Ich glaube, das ist der Hebel, über den sie die Zustimmung der Leute bekommen", sagte die Korrespondentin.