Englands Fußballmärchen ist wieder da
„Okay... wer ist heute Nacht in Leicester aus?“. Mit dieser Nachricht auf X leitete LCFC-Spieler Kiernan Dewsbury-Hall die lange Partynacht in Leicester ein. Nach der 0:4-Niederlage von Championship-Konkurrenten Leeds United steht fest, dass die Foxes auf die große englische Bühne in der Premier League zurückkehren. Sie kehren dorthin zurück, wo sie vor acht Jahren ein Fußballmärchen schrieben.
Ein Rückblick: Der FC Chelsea hatte gerade souverän ihren sechsten Ligatitel gewonnen und die Premier League stellte sich auch in der Saison 2015/2016 auf einen weiteren Titelkampf der „Big Six“ ein. Chelsea, ManCity, Arsenal, ManUnited, Tottenham, Liverpool - einer würde es schon machen. Doch nach und nach wurde klar: Da mischt noch jemand mit.
Leicester City spielte sich 2016 in einen Rausch
Der für Premier-League-Verhältnisse kleine Leicester City Football Club aus dem 350.000-Einwohnerstadt in der Grafschaft Leicestershire im Zentrum Englands war zwei Jahre zuvor erst aus der zweiten Liga aufgestiegen. In der Vorsaison war er fast auch direkt wieder abgestiegen, doch nun biss er sich fest. Dass ein kleinerer Verein sich mal für ein paar Spiele in einen Rausch spielt und oben anklopft, das ist nichts Neues. Nach dem Rausch folgte meist der Kater und ein paar Wochen später ist das altbekannte Bild dann doch wieder hergestellt.
Das kennt man auch aus der Bundesliga. Mal stand Union Berlin an der Tabellenspitze, mal war es plötzlich der SC Freiburg. Am Ende stieg die Meisterfeier doch wieder auf dem Marienplatz und der FC Bayern streckte die Schale erneut in die Höhe. Naja, zumindest bis Leverkusen einen spanischen Weltmeister auf die Bank setzte.
Aber zurück nach England: Direkt am ersten Spieltag tauchte der Name Leicester erstmals auf Platz Eins auf, danach wechselten sie zwischen den ersten drei Plätzen hin und her. So ganz wurden die milliardenschweren Klubs den kleinen Verein aber nicht los. Am 23. Spieltag kehrte die Mannschaft von Trainer Claudio Ranieri dann wieder an die Tabellenspitze zurück - und gab diese nicht mehr auf.
Auf den Rausch folgte diesmal kein Kater. 2:0 gegen Liverpool, 3:1 gegen ManCity - Leicester war nicht mehr zu stoppen. Und als der Verfolger Tottenham am 2. Mai 2016 nicht über ein 2:2 gegen Chelsea hinauskam, stand es fest: Leicester City ist Meister! Fünf Tage später stemmte Kapitän Wes Morgan den begehrten Pokal in die Höhe. In Wettportalen standen die Chancen dafür vor dem Beginn der Saison bei 1:5000.
Im Team waren mit N‘Golo Kanté und Riyad Mahrez zwei spätere Champions League-Sieger, doch der wichtigste Mann war Torjäger Jamie Vardy. Der damals 29-Jährige erzielte 24 Tore für den neuen englischen Meister.
Dass der Stürmer überhaupt in der Premier League auflaufen würde, grenzte damals schon an einem Wunder. Im Jahr 2002 war er in eine Schlägerei in einem Nachtclub verwickelt, bekam daraufhin für sechs Monate eine Ausgangssperre zu bestimmten Uhrzeiten und musste eine elektronische Fußfessel anlegen. Zuvor war er bereits in der Jugendakademie von Sheffield United aussortiert worden.
Die Fußballkarriere schien zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte.
Jamie Vardy spielte mit einer Fußfessel
Ein Jahr später fing Vardy beim Amateurclub Stocksbridge Park Steels wieder an zu kicken, anfangs sogar noch mit der Fessel am Fuß. Doch die hinderte ihn nicht am Tore schießen, die nächsten sieben Jahre schoss er die Amateurliga kaputt. Es folgten mehrere Wechsel: Erst in die siebte Liga, dann in die fünfte und schließlich 2012 zum damaligen Zweitligisten Leicester City.
Zwei Jahre später stiegen Vardy und Leicester gemeinsam in die erste Liga auf, wo Vardy mit 27 Jahren sein Debüt in der Premier League gab. Seine Torgefahr wurde aber nicht weniger. In der Meistersaison traf der Engländer zwischen dem vierten und 14. Spieltag in elf aufeinanderfolgenden Spielen und stellte damit sogar einen neuen Rekord auf. Zuvor hatte Ruud van Nistelrooy zehn Spiele am Stück getroffen. 748 Tage nach seinem Debüt durfte der Engländer sich englischer Fußballmeister nennen und wurde zudem zu Englands Fußballer des Jahres sowie zum Premier-League-Spieler der Saison ausgezeichnet.
Trotzdem blieb der Stürmer beim LCFC, obwohl er sogar ein Angebot von Real Madrid gehabt haben soll. An die Erfolge aus der Meistersaison konnte der Verein aus dem Zentrum Englands aber auch mit ihrem Topstürmer nicht mehr anknüpfen. Die „Big Six“ hatten die Premier League wieder übernommen.
Der Tod des Club-Besitzers erschütterte Leicester
Dazu kam der plötzliche Tod des Klub-Besitzers Vichai Srivaddhanaprabha im Jahr 2018, der bei einem Helikopterabsturz in unmittelbarer Nähe des Stadions ums Leben kam. Der Verein versank in tiefe Trauer. Mit dem Gewinn des englischen Pokals und des Superpokals im Jahr 2021 erlebte der Verein zwar noch einmal ein kurzes Hoch, doch für den Verein ging es in der Tabelle immer weiter herab. Von dem Traum der regelmäßigen Europapokal-Teilnahme mussten sich die Fans schnell wieder verabschieden.
Den Tiefpunkt erlebten die Fußballer aus der 350.000 Einwohner-Stadt dann in der vergangenen Saison. Gerade einmal 34 Punkte holten die Foxes in 38 Partien, kassierten dabei im Schnitt 1,79 Tore pro Spiel. Damit stiegen sie in die zweite Liga ab.
„Ich bin niedergeschlagen, ja am Boden zerstört, dass ich diesen Beitrag überhaupt schreiben muss“, schrieb Jamie Vardy auf X. „Ich habe die letzte Woche damit verbracht, über unseren Abstieg nachzudenken, und ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, außer dass es mir wirklich leidtut, dass wir diese Saison nicht geliefert haben“.
Der Stürmer, der 2020 der älteste Torschützenkönig der Premier League wurde, ließ seine Zukunft erst offen, verlängerte dann aber doch seinen Vertrag und ging mit seinem Herzensklub in die Championship. „Es war eine leichte Entscheidung. Als ich hörte, dass der Verein das in Betracht zieht, konnte nur eine Sache passieren“, sagte der 35-Jährige.
Der ehemalige Nationalspieler genießt in Leicester einen Sonderstatus. Weiterhin muss er weniger trainieren als seine Mitspieler. Manchmal ist er sogar gar nicht beim Training. Zu seiner Spielvorbereitung gehören drei Energydrinks, ein Espresso und ein Käse-Schinken-Omelette. Das hat mittlerweile auch der neue Trainer Enzo Maresca akzeptiert, denn sein Stürmer liefert trotzdem weiter.
Leeds kann den Tabellenführer nicht mehr einholen
Mit 16 Toren ist er erneut Toptorschütze seiner Mannschaft und führte seine Mannschaft damit nun zum direkten Wiederaufstieg. 94 Punkte holten die Foxes bisher. Da der Verfolger Leeds United am Freitagabend sein vorletztes Spiel der Saison verlor, kann er den Tabellenführer nicht mehr einholen. Dahinter ist Leicester nur noch für Ipswich in Reichweite, dadurch ist ein Platz auf den beiden direkten Aufstiegsplätzen sicher.
„Herzlichen Glückwunsch an mich, die Jungs, die Mitarbeiter, den Klub und die tollen Fans. Wir sind zurück!“, schrieb Spieler Wilfried Ndidi auf X unmittelbar nach Abpfiff. Sein Mitspieler Stephy Mavididi wusste gar nicht so recht, ob er sich schon freuen darf: „Ist es noch zu früh? PREMIER LEAGUE BABY!“. Torhüter Mads Hermansen hielt es kurz: „Wir gehen hoch, wir gehen hoch“.
Danach begann in Leicester die wilde Partynacht. Der Vertrag von Jamie Vardy läuft am Ende der Saison aus. Ob das Fußballmärchen noch einmal in der Premier League weitergeht, steht aktuell noch nicht fest.