Vom Gescholtenen zum MVP

Vom Gescholtenen zum MVP
Vom Gescholtenen zum MVP

Fassungslos richteten die Stars der Boston Celtics ihren Blick gen Anzeigetafel, die ein verheerendes Ergebnis von 84:103 anzeigte. Etwas mehr als ein Jahr ist es her, als die Celtics im entscheidenden Spiel sieben eine böse Abreibung der Miami Heat kassierten und in den Eastern Conference Finals scheiterten. Vorbei der Traum vom ersten NBA-Titel seit 2008. Damals im Zentrum der Kritik: Jaylen Brown, der ausgerechnet im wichtigsten Spiel der Saison einen Abend zum Vergessen hatte.

Auch weil sich Superstar Jayson Tatum direkt im ersten Angriff am Knöchel verletzte, musste Brown in die Bresche springen und sein Team im Scoring tragen. Der Rolle kam der Shooting Guard nicht wirklich nach, traf nur acht seiner 23 Würfe und leistete sich ganze acht (!) Turnover.

In mehreren Fällen verdribbelte sich Brown vor allem mit seiner linken Hand und musste sich dafür nach dem Spiel, in der Offseason und auch danach noch vieles anhören. „Ich habe versagt. Wir haben versagt. Wir haben die ganze Stadt im Stich gelassen“, erklärte Brown damals auf der Pressekonferenz.

Eine schwere Zeit für den einstigen dritten Pick der Celtics, der lange nicht im Zentrum des Geschehens stand. Die Rolle des Stars und Hoffnungsträgers im Team oblag vielmehr Tatum, während bei Brown zumeist die Frage gestellt wurde, ob er als zweite Option stark genug sei, um den Kelten zur langersehnten 18. Meisterschaft zu verhelfen.

Mit Wut im Bauch und einem verbesserten Kader gingen die Celtics in die Saison 2023/24 und spielten die Liga förmlich an die Wand. Mit einer Bilanz von 64-18 schloss Boston die Regular Season als das mit Abstand beste Team der Liga ab und zog im Eiltempo in die NBA Finals ein. Das Team von Coach Joe Mazzulla nahm dabei Revanche an den Heat (4:1), räumte die Cleveland Cavaliers aus dem Weg (4:1) und sweepte in den Conference Finals die Indiana Pacers (4:0).

Ganz so eindeutig, wie das Ergebnis vermuten lässt, war die Final-Serie der Eastern Conference gegen die Pacers aber nicht. In drei der vier Spiele warfen die Pacers den Sieg in den Schlussminuten weg. In Spiel eins war es Jaylen Brown, der die Celtics mit einem unfassbaren Dreier erst in die Overtime und später zum Sieg warf.

Brown von MVP-Auszeichnung überrascht: „Gewinne nie etwas“

Nicht nur im Auftaktspiel der Serie wurde der 27-Jährige zum Erfolgsgaranten der Celtics. Brown traf in jedem der vier Spiele mindestens 50 Prozent aus dem Feld und erzielte in Spiel zwei überragende 40 Punkte. Viel überraschender als die Zahlen an sich ist jedoch die Tatsache, dass der US-Amerikaner auch endlich für seine Leistungen gewürdigt wurde. Der Gewinn der Larry-Bird-Trophy, die für den wertvollsten Spieler der Eastern Conference Finals vergeben wird, war die logische Folge.

Eine Ehrung, die Brown nicht gewohnt ist und daher auch selbst nicht in Erwägung gezogen hätte. „Ich habe das überhaupt nicht erwartet. Normalerweise gewinne ich nie irgendetwas“, erklärte der NBA-Star vor Journalisten.

Dabei spielte er wohl vor allem darauf an, dass er bei der Wahl in die All-NBA-Teams leer ausging und nicht unter die besten 15 Spieler der Liga gewählt wurde. Der Sprung in ein All-Defense-Team war ihm ebenfalls überraschend verwehrt worden. „Ich sehe mich als einer der besten Two-Way-Wings in der NBA. Dass ich es nicht in ein All-Defense-Team geschafft habe, hat mich am meisten verletzt“, gestand Brown.

Nicht nur er selbst ist der Meinung, dass eine persönliche Ehrung längst an der Zeit war, sondern auch NBA-Superstar LeBron James. Der „King“ kommentierte auf X mit einem „Keep going Young! Respect!“ (“Weiter so, Junge! Respekt!“). Zudem wurde der jubelnde Brown auch von seinen Teamkollegen mächtig abgefeiert.

Brown und Tatum mit rekordverdächtigen Zahlen

Auf dem Weg in die NBA Finals 2022 hatte noch Tatum die Larry-Bird-Trophäe gewonnen, anhand der Zahlen und Werte hätte der 26-Jährige diese auch in diesem Jahr wieder abräumen können.

Brown erhielt mit fünf Stimmen nur eine mehr als sein Teamkollege, der ebenfalls gute Argumente auf seiner Seite gehabt hätte. In den Statistiken Punkte, Rebounds und Assists lag Tatum vorne und wurde damit der fünfte Spieler der NBA-Geschichte, der sein Team als Top-Mann in den wichtigsten drei Kategorien in die Finals führte. Dabei sei jedoch angemerkt, dass Brown mit 29,8 Punkten pro Spiel nur knapp hinter seinem Kollegen Tatum (30,3) blieb und in Sachen Effizienz mit einer besseren Wurfquote vorne lag.

Dem Superstar-Duo gelang es ganz nebenbei, in die Top 10 der erfolgreichsten Punktesammler der Historie in Conference Finals aufzusteigen. Brown stand bereits sechs Mal in den Endspielen im Osten (2017, 2018, 2020, 2022, 2023 und 2024), Tatum seit 2018 fünf Mal.

Brown lässt Kritiker verstummen: Schlüsselrolle gegen Doncic?

Hinter Brown liegt ein bewegtes Jahr. Auf seine enttäuschenden Leistungen in den Playoffs 2023 folgte der größte Vertrag in der Geschichte der NBA, der ihm in fünf Jahren satte 304 Millionen Dollar einbringen soll. Gerade dieser Fakt hat dafür gesorgt, dass er mit Argusaugen beäugt und nur zu gerne bei jedem verfehlten Wurf oder Turnover kritisiert wurde.

Den Celtics-Star scheint das jedoch vielmehr beflügelt zu haben. Auch der Abgang von Fanliebling Marcus Smart zu den Memphis Grizzlies führte dazu, dass Brown in eine neue Rolle schlüpfte. „Marcus Smart, einer meiner Brüder, der getradet wurde, war eine der Stimmen in unserem Team. Als er nicht mehr hier war, wollte ich sicherstellen, dass ich für ihn einspringe“, erklärte er.

Brown ist es nicht nur gelungen, die Führungsrolle von Smart einzunehmen, sondern er fungiert auf gleiche Weise auch als eine Art Filter, um den Unmut einiger Anhänger auf sich zu ziehen und damit auch von anderen fernzuhalten.

Smart selbst war schließlich der am meisten polarisierende Celtics-Profi, weil er neben seinen Qualitäten als Verteidiger zu unnötigen Dreier-Versuchen neigte, die nur zu oft nicht durch den Ring fielen. Brown hingegen ist als Two-Way-Player in der Offense und Defense ein Erfolgsfaktor und scheint durch jeden unschönen Kommentar stärker geworden zu sein.

Brown muss Doncic in den Griff bekommen

Seine neu gewonnene Qualität und Nervenstärke muss Brown nun aber auch in den Finals an den Tag legen, in denen Boston auf die Dallas Mavericks trifft. Die Aufgabe von Brown: Superstar Luka Doncic in den Griff bekommen.

Trotz der Unterstützung von Kyrie Irving ist Doncic die Schlüsselfigur bei Dallas und derjenige, der primär gestoppt werden muss. Brown hat in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er ausreichend athletisch und intelligent ist, um dem Slowenen das Leben schwer zu machen. Das Duell zwischen Doncic und Brown verspricht der absolute X-Factor der Finals zu werden. Behält Brown auch in diesem Duell die Überhand, dürften auch die letzten Zweifel an seiner Person der Vergangenheit angehören.