Green Deal der EU Ziel von Desinformation vor der Europawahl

Der Green Deal der EU ist Zielscheibe heftiger Online-Desinformation – darunter auch erfundene Behauptungen, Brüssel plane die Einführung eines "Kohlenstoffpasses" oder ein Verbot von Reparaturen an Autos, die älter als 15 Jahre sind – wie Faktencheck-Organisationen wie AFP und andere Mitglieder des Projekts Elections24Check vor den EU-Parlamentswahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 herausgefunden haben.

Der Green Deal ist eines der wichtigsten Projekte für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die eine zweite Amtszeit anstrebt. Dabei handelt es sich um ein Vorhaben, das darauf abzielt, bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen und Ökosysteme zu erhalten. Dadurch soll die EU klimaneutral gemacht werden.

Doch der Plan ist sowohl von der fossilen Brennstoffindustrie und dem Agrarsektor als auch von der politischen und extremen Rechten scharf kritisiert worden, sodass die Zukunft des Green Deals je nach Ausgang der Wahl möglicherweise sogar gefährdet sein könnte – wie in einem Artikel auf der französischsprachigen Website "Les Surligneurs" festgestellt wird.

Vor allem in sozialen Medien verbreiten Rechtsextreme, Klimaleugnerinnen und Klimaleugner und Verschwörungswebsites Desinformation, um das Abkommen zu diskreditieren, so Arnaud Mercier, Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Pantheon-Assas in Paris.

Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien, die ohnehin schon europa- oder wissenschaftsfeindlich sind, fühlen sich durch die geballte Macht dieser Akteurinnen und Akteure ermutigt, falsche oder irreführende Behauptungen "in gutem Glauben" zu verbreiten, sagte Mercier gegenüber AFP.

Expertinnen und Experten betonen auch, dass Staaten wie Russland ebenfalls versuchen, die EU über ihre grüne Initiative zu untergraben."Der Kreml verbreitet aktiv Desinformationsnarrative im Zusammenhang mit dem Green Deal", sagte Martin Vladimirow, Direktor des Zentrums für Demokratieforschung in Sofia, und verwies auf die Propaganda "über die Gefahren von Windrädern".

So wird beispielsweise fälschlicherweise behauptet, dass Windräder Dürren verursachen würden – wie in diesem AFP-Faktencheck-Artikel erklärt oder dass durch Windräder alle Lebewesen in einem Umkreis von 15 Kilometern vernichtet würden – wie die lettische Faktencheck-Website Re:Baltica berichtete.

<span>Facebook-Screenshot der Behauptung: 17. April 2024</span>
Facebook-Screenshot der Behauptung: 17. April 2024

Das Klima im Allgemeinen ist regelmäßig Gegenstand falscher Behauptungen in sozialen Medien. Bis zum 29. Mai 2024 war das Thema Klima nach dem Krieg in der Ukraine das am zweithäufigsten zitierte Thema in den Faktenchecks, die der Datenbank von Elections24Check hinzugefügt wurden.

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Screenshot der Website Elections24Check: 29. Mai 2024 (aufgenommen von AFP)

Kein "Kohlenstoffpass"

In den letzten Monaten haben Journalistinnen und Journalisten von AFP und den rund 40 anderen Organisationen, die an dem Projekt teilnehmen, eine Reihe falscher oder irreführender Behauptungen zu Aspekten des Green Deals in den Bereichen Verkehr, Energie, Landwirtschaft und Biodiversität überprüft und widerlegt.

Eine falsche Behauptung, die in Rumänien weit verbreitet war, besagte, dass Brüssel bald "Kohlenstoffpässe" einführen würde, um die Kohlenstoffemissionen jeder Einzelnen und jedes Einzelnen zu messen und die Reisemöglichkeiten bei Überschreitung eines zuvor festgelegten Grenzwerts einzuschränken.

Gianina Serban von der rechten AUR-Partei verstärkte die Desinformation, indem sie sich darüber beschwerte, dass sich die EU "in eine Art sowjetisches Kommissariat zu verwandeln scheint, das Beschränkungen auferlegt".Sie forderte alle Rumäninnen und Rumänen auf, sich dagegen zu wehren, indem sie bei der Wahl vom 6. bis 9. Juni 2024 für "Patrioten und Vertreter der Souveränität" stimmen.

Auch anderswo wurde fälschlicherweise behauptet, der Green Deal der EU würde den Weg für ein Verbot des "Anbaus von Gemüse und Obst für den Eigenbedarf" ebnen – wie aus Nachrichten von einigen Internetnutzerinnen und -nutzern in Polen hervorgeht, die von der Faktencheck-Website "Demagog" analysiert wurden.

Meistens bezieht sich die Desinformation auf bereits bestehende Texte, die dann in einen anderen Kontext gesetzt und so inhaltlich verzerrt werden.

Autos – ein heikles Thema

Ein Thema, das die Gemüter ganz besonders erhitzt, sind Autos. Brüssel ist fest entschlossen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, und will daher den Verkauf von neuen benzinbetriebenen Fahrzeugen bis 2035 zugunsten von Elektroautos einstellen.

Viele sehen darin einen Angriff auf die individuellen Freiheiten und in sozialen Medien in ganz Europa – darunter Bulgarien, derTschechischen Republik, Frankreich, Griechenland, Deutschland, den Niederlanden, Rumänien und dem Vereinigten Königreich – kursieren irreführende Behauptungen, Brüssel wolle die Reparatur von Fahrzeugen, die älter als 15 Jahre sind, verbieten oder diese sogar beschlagnahmen und verschrotten.

<span>X-Screenshot (links) und Facebook-Screenshot (rechts): 24. Januar 2024</span>
X-Screenshot (links) und Facebook-Screenshot (rechts): 24. Januar 2024

Was die Europäische Kommission im Juli 2023 tatsächlich vorschlug, war eine Überarbeitung des Gesetzestextes über sogenannte Altfahrzeuge, um deren Recycling besser zu handhaben. Die vorgeschlagene Verordnung – die noch verabschiedet werden muss, bevor sie in Kraft tritt – enthält keine spezifischen Maßnahmen für Autos, die älter als 15 Jahre sind.

In dem Dokument wird vorgeschlagen, dass jedes Fahrzeug, dessen Reparatur "den Austausch von Motor, Getriebe, Karosserie oder Fahrgestell" erfordere, als "technisch irreparabel" eingestuft werden solle. Dies würde Privatpersonen jedoch nicht daran hindern, ein solches Fahrzeug reparieren zu lassen, wenn sie dies wünschen.

Für Autobesitzerinnen und -besitzer sieht die vorgeschlagene Verordnung lediglich die Verpflichtung vor, ihr Fahrzeug am Ende seiner Lebensdauer bei einer zugelassenen Verwertungsanlage abzugeben. Die übrigen Verpflichtungen betreffen die Fahrzeughersteller und die Mitgliedstaaten und zielen darauf ab, die Sammlung, Verwertung und das Recycling von Altfahrzeugen zu verbessern.

Ein weiteres Beispiel für Desinformation betreffend den Green Deal ist das EU-Renaturierungsgesetz, das Ende Februar 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde. In Schweden forderten einige Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien den Austritt ihres Landes aus der EU, nachdem fälschlicherweise behauptet worden war, das Gesetz würde jegliche Landwirtschaft in Naturschutzgebieten verbieten.

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Facebook-Screenshot der Behauptung: 6. März 2024

Ähnlich verhält es sich in Portugal, wo in sozialen Netzwerken verbreitet wurde, dass angebliche zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche stillgelegt werden sollen – eine Zahlenangabe, die sich nirgendwo im Gesetzestext finden lässt – wie auf der Faktencheck-Website "Poligrafo" betont wird.

Und in Polen hat die Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit – eine nationalistische Gruppe, die die "absurde Politik der Europäischen Union" anprangert – fälschlicherweise behauptet, dass das EU-Renaturierungsgesetz polnische Landwirtinnen und Landwirte dazu verpflichten würde, entwässerte Torfmoore zu überfluten – wie "Demagog" erklärte.

Tatsächlich sieht das Gesetz Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ökosysteme auf 20 Prozent der Land- und Meeresgebiete der EU bis 2030 vor und die Wiederherstellung von mindestens 30 Prozent der Lebensräume (beispielsweise Feuchtgebiete, Wälder) in schlechtem Zustand einzuleiten.

Das Gesetz wurde jedoch von konservativen Europaabgeordneten und Landwirtinnen und Landwirten kritisiert, die in mehreren europäischen Ländern Demonstrationen organisiert haben.

Das letzte formelle grüne Licht der EU-27, das für das Inkrafttreten des Gesetzestextes unerlässlich ist, steht noch aus. Da die erforderliche Mehrheit (15 Länder, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) nicht erreicht wurde, wurde das Thema Ende März 2024 von der Tagesordnung der Sitzung der nationalen Botschafter gestrichen.

Repolitisierung der Debatte

"Ein großer Teil der 'Fake News' funktioniert durch Übertreibung und Dekontextualisierung", sagte Mercier. "Sie basieren auf einem wahren Kern und greifen Elemente auf, die möglicherweise schon vorher im Umlauf waren, um glaubwürdig zu wirken", fügte er hinzu."Ein komplexes Gebilde wie die Europäische Union mit ihren zahlreichen Ebenen von Behörden, Interessensgruppen und Lobbyisten ist für solche Techniken umso anfälliger", sagte er.

Eine Methode bestehe darin, einen Vorschlag oder eine Maßnahme, die sich noch im europäischen Entscheidungsprozess befindet, so darzustellen, als handle es sich bereits um ein konkretes Gesetz, das von der Institution schon verabschiedet wurde.

<span>Champgazon-Torfmoor im Naturschutzgebiet Morvan in Frankreich am 12. Oktober 2023</span><div><span>ARNAUD FINISTRE</span><span>AFP</span></div>
Champgazon-Torfmoor im Naturschutzgebiet Morvan in Frankreich am 12. Oktober 2023
ARNAUD FINISTREAFP

Im weiteren Sinne bestehe die "politische Rhetorik darin, nicht genau zu sagen, worum es wirklich geht", um eine Art Kompromiss zu erzielen, sagte Mercier. Und das fördere unbeabsichtigt Desinformation, weil es "einen Raum öffnet, der von alternativen Geschichten gefüllt werden kann".

Alvaro Oleart, Forscher an der Freien Universität Brüssel in Belgien, wies darauf hin, dass der Diskurs von Ursula von der Leyen und den Befürworterinnen und Befürwortern des Green Deals zu "technokratisch" und nicht ausreichend politisiert sei.

"Der beste Weg, Desinformation zu bekämpfen, ist nicht so sehr die Überprüfung von Fakten, sondern die Förderung der politischen Debatte zwischen Linken und Rechten", sagte er. Durch die Repolitisierung dieser Themen würden die Gewinner und Verlierer offengelegt, sodass sich die Wählerschaft leichter damit auseinandersetzen könne, so Oleart.

Dieser Artikel ist Teil eines gemeinsamen Projekts von mehr als 40 Organisationen, darunter AFP, das vom European Fact-Checking Standards Network (EFCSN) durchgeführt wird. Ziel des Projekts ist es, Desinformation im Zusammenhang mit der Europawahl 2024 zu bekämpfen. Weitere Informationen finden Sie unter elections24.efcsn.com.