Warum haben Kinder immer so viel Sand in den Schuhen?
Köln/Trier (dpa) - Bald beginnt sie wieder, die große Umverteilung. Ihren Anfang nimmt sie auf Spielplätzen und in Sandkästen von Kitas - und sie endet im heimischen Hausflur. Wenn Kinder - wie nun im Frühling immer häufiger - vom Spielen im Freien nach Hause kommen, haben sie etwas mitgebracht.
Und obwohl man eigentlich darauf vorbereitet sein sollte, ist man stets überrascht, wie viel es ist: Sand. Häufchen um Häufchen rieselt auf den Boden, sobald die Schuhe ausgezogen sind. «Hast du das denn nicht gemerkt?», fragt man in einer Mischung aus elterlicher Verblüffung und Dummheit. Und blickt in ausdruckslose Gesichter.
Wo kommt der Sand her?
Sand und Schuhe, das ist kulturgeschichtlich keine neue Kombination. «Ich hab' noch Sand in den Schuh'n aus Hawaii», freute sich mal der Schlagerbarde Bata Illic in einem seiner Lieder - das war schon 1975. Aber gerade mit Blick auf Kinder lohnt sich doch eine genauere Betrachtung. Denn Sand, der aus winzigen Schuhen rieselt, gehört zu den wiederkehrenden und damit auch strukturierenden Erlebnissen im Leben von Menschen, die mit jungen Erdenbürgern zu tun haben. Ein verbindendes Element - und wie viele gibt es davon noch?
Wo der Sand herkommt, ist relativ klar: aus Sandkästen und von Spielplätzen, den natürlichen Habitaten Ein- bis Fünfjähriger. Ganz erstaunlich ist jedoch die Menge, die Kinder offenbar ungerührt über Stunden in ihren Schuhen mit sich führen können. Nichts ahnt man, Klagen hört man nicht, und am Ende sieht der Fußboden aus wie der Wüstenplanet im Film «Dune». Wie kann das sein?
Wieso bemerken Kinder den Sand nicht?
Ein Anruf bei Arne-Björn Jäger, Oberarzt der Orthopädie, der muss es wissen. Aber auch er betont zunächst: «Das ist eine komplexe Fragestellung!» Der Fuß, das sei ein «filigranes Bauwerk», sagt Jäger. «Er besteht aus vielen einzelnen Knochen - insgesamt 28, die in gelenkiger Verbindung sind. Dazu kommen Bänder und Muskeln.»
Was das Erfühlen von Sand angeht, da wird es nun richtig kompliziert. Einerseits gebe es das sogenannte protopathische System, sagt der Mediziner aus Trier. Das sei das Schutzsystem - es vermittle Schmerz, grobe Berührungen, auch Temperatur. «Wenn wir auf etwas sehr Heißes treten, ziehen wir den Fuß weg.»
Dieses System entstehe sehr früh, bereits im Mutterleib. Daneben gebe es aber noch das sogenannte epikritische System. Es sei in der Lage, Formen zu erkennen oder Enge zu bemerken. «Dieses System ist es auch, das uns vermittelt, dass Sand im Schuh ist. Sand ist ja per se nichts, was starke Schmerzen hervorruft», sagt Jäger. «Der Unterschied ist nun: Das epikritische System entwickelt sich erst nach und nach. Es unterliegt einem Lernprozess. Und bei vielen Kindern ist es offenbar noch nicht so ausgebildet, dass sie den Sand im Schuhe bemerken.»
Ist der Sand schädlich?
Wenn man einen guten Orthopäden am Telefon hat, trägt man ihm natürlich auch die Frage an, ob man sich als Eltern da nun Sorgen machen müsse. Da winkt Jäger aber ab. «Ich habe noch kein Kind gesehen, das durch Sand im Schuh anatomische Schäden davongetragen hat. Höchstens mal eine Blase», sagt er. Puh.
Die Analyse deckt sich mit den Eindrücken, die man beim Bundesverband der Schuh- und Lederwarenindustrie gewonnen hat. Dort verweist Sprecherin Claudia Schulz ebenfalls auf das Phänomen, das kleine Kinder offenbar noch kein ausgeprägtes Druckempfinden hätten. «Deshalb ist die Anprobe von Schuhen auch immer so eine Sache», sagt sie. Kinder sagten oft, dass ein Schuh passe, obwohl er eigentlich zu klein sei - weil er ihnen gefalle. «Weil sie den Druck nicht spüren.» Man muss sich Kinder als glückliche Menschen vorstellen.
Wie wird man den Sand los?
Warum nicht weit vor dem großflächigen Berieseln des Hausflurs Alarm geschlagen wird, scheint damit geklärt. Wie man damit umgeht, weiß man schon länger, das sei ergänzt. «Ich würde bei Sandverschmutzung immer auf das Saugen setzen», sagt Hélène Staiber, Meisterin im Gebäudereinigungshandwerk.
«Vor allem bei rauen Böden ist saugen wichtig, damit der Sand auch aus den Vertiefungen rausgeht.» Ausnahme: Hochglanzfliesen, die womöglich zerkratzen. Dann schlägt die Stunde von Besen und Kehrblech.
Fehlt den Spielplätzen also Sand?
Letzte Baustelle: die Spielplätze. Was machen die eigentlich, wo ihnen doch immer wieder Sand abhandenkommt? «Die Notwendigkeit einer Sandnachfüllung beziehungsweise eines Sandaustauschs wird durch regelmäßig stattfindende Kontrollen festgestellt», erläutert dazu gewohnt kühl ein Sprecher der Stadt Köln. «Der Sand an den Spielplätzen wird somit bedarfsgerecht und regelmäßig nachgefüllt oder ausgetauscht.»
Das heißt wohl: Für Nachschub ist gesorgt. Die Umverteilung kann weitergehen.