Im Zweifel für die Sicherheit
Gustl Mollath sitzt seit sieben Jahren wohl völlig zu Unrecht in der Psychiatrie. Und er wird wohl noch länger dort bleiben müssen, denn das Landgericht Regensburg hat eine Wiederaufnahme des Falles abgelehnt. Die Causa gilt mittlerweile als riesiger Justizskandal. Mollaths Schicksal bewegt die Menschen deutschlandweit und hat eine Menge von Fragen aufgeworfen: Warum landen inzwischen mehr Menschen in einer psychiatrischen Klinik als im Gefängnis? Und wie kann es passieren, dass offensichtlich harmlose Normalbürger für paranoid und gemeingefährlich erklärt werden?
Freiheit ist wohl das wertvollste Gut, das Menschen besitzen. Wie schnell einem diese geraubt werden kann, zeigt der Fall Mollath. Im Jahr 2003 beschuldigte der Ingenieur seine Frau, die als Mitarbeiterin einer Bank arbeitete, illegale Schwarzgeldgeschäfte zu betreiben. Diese bezichtigte Mollath daraufhin der Lüge und warf ihm vor, sie misshandelt zu haben. Ein Gericht wies ihn daraufhin in die Psychiatrie ein, in der Mollath nach wie vor sitzt, obwohl seine Anschuldigungen inzwischen als bewiesen gelten.
Auschlaggebend für Mollaths Einweisung war damals ein psychiatrisches Gutachten, das ihm paranoide Wahnvorstellungen bescheinigte und vor weiteren Straftaten durch ihn warnte. Doch solche Gutachten seien letztlich nur Wahrscheinlichkeitsprognosen, sagt der Freiburger Kriminologe Helmut Kury, der selber seit vielen Jahren an deutschen Gerichten als Gutachter tätig ist. „Ein psychiatrisches Gutachten ist wie eine Wetterprognose – man kann immer daneben liegen.“ Kury sieht noch ein weiteres Problem der „Gutachterei“, die sich mittlerweile in ein „Riesengeschäft“ entwickelt habe: „Viele Gutachter werden sich hüten, ihre Auftraggeber zu verärgern. Sie werden ihre Expertisen im Sinne ihrer Auftraggeber verfassen. Denn gegenteilige Meinungen könnten zukünftige Aufträge gefährden“, meint Kury. Auftraggeber sind meistens Gerichte und Staatsanwaltschaften.
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Die Probleme, die bei der Einweisung in die Psychiatrie entstehen können, sind seit vielen Jahren bekannt. Deshalb wurden bereits im Jahr 2006 Mindeststandards für psychiatrische Gutachten veröffentlicht. „Ich habe aber oft das Gefühl, dass viele Gerichte diese nicht einmal kennen“, meint Kriminologe Kury. Dementsprechend könnten diese Richter die Gutachten nicht professionell einschätzen und beurteilen. Kury empfiehlt seinen Kollegen zudem, sich im Zweifel auch mal eine zweite Meinung einzuholen.
Gesteigertes Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft
Es gibt aber offenbar noch einen alarmierenden Trend: Immer mehr Verurteilte sitzen in der Klinik statt im Gefängnis. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Patienten, die von einem Gericht in die Psychiatrie eingewiesen wurden, mehr als verdoppelt, berichtete die "Süddeutsche Zeitung". Helmut Kury sieht einen Grund im gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft. Angestachelt werde dieses Bedürfnis durch die umfangreiche mediale Berichterstattung über schwere Verbrechen, sagt Kury. Die Angst der Bevölkerung und der - verständliche - Wunsch nach Schutz erhöhe wiederum den Druck auf die Gerichte und zwinge sie zum harten Durchgreifen, meint der Freiburger Kriminologe. Bei immer mehr Angeklagten, die man möglichweise für gefährlich hält, würde der Umweg über eine Klinik gewählt, wenn man sie nicht zu einer Haftstrafe verurteilen kann. Ein Teufelskreis - offenbar auf Kosten von wahrscheinlich harmlosen Menschen wie Mollath. Kury appelliert deshalb an die Öffentlichkeit anzuerkennen, dass absolute Sicherheit eine Utopie ist.
Der steinige Weg aus der Psychiatrie
Insassen von psychiatrischen Klinken haben nach Ansicht von Experten noch weitere Nachteile gegenüber Inhaftierten. Während die Einweisung in die Klinik durch einen gerichtlichen Beschluss angeordnet wird, ist eine spätere Entlassung wesentlich komplizierter, erklärt die Anwältin von Gustl Mollath, Erika Lorenz-Löblein. "Eine Gefängnisstrafe ist eine klare zeitlich begrenzte Strafe, die nach der Haftzeit als verbüßt gilt“, sagt sie. „Bei anstehenden Entlassungen aus der Psychiatrie dominiert hingegen der Blick auf die Zukunft. Und dabei schwingt stets die Angst vor der Unzurechnungsfähigkeit der Betroffenen mit.“ Die Hemmschwelle für eine Entlassung sei daher sehr viel größer, erklärt sie.
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Die Auswirkungen der Psychiatrie werden unterschätzt
Die Mängel der Psychiatrie erfuhr Michael Seibt am eigenen Leib. In seiner Jugend wurde der 53-jährige Diplompsychologe sieben Jahre lang unter Neuroleptika gesetzt. Heute sitzt er im Vorstand des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE). Sein Ziel ist vor allem eines: ein kritischerer Umgang mit dem Thema Psychiatrie. Die Verschiedenheit der Menschen werde bei der Einweisung häufig nicht berücksichtigt: „Normalität ist kein Staatsziel“, empört er sich. Wenn die Betroffenen dann erst einmal in der Psychiatrie untergebracht seien, ergehe es ihnen meist schlechter als zuvor, so Seibt. „Die Psychiatrie ist weder problemorientiert noch gesundheitsfördernd“, sagt der Diplompsychologe. Um der Öffentlichkeit die Folgen der Psychiatrie vor Augen zu führen, müsse eine Todesfallstatistik erstellt werden. Schließlich werde in Deutschland alles gezählt: „Warum will niemand wissen, dass psychiatrisch Behandelte im Durchschnitt 20-32 Jahre kürzer leben?“
Findet langsam ein Umdenken statt?
Dass Reformen notwendig sind, zeigen die Aussagen von Seibt, Kury und vor allem die Umstände des Falls Mollath allzu deutlich. Dies hat nun offenbar auch das Bundesjustizministerium erkannt. Vor wenigen Tagen wurde durch einen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" bekannt, dass eine von Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) angeregte Reform die Unterbringung in der Psychiatrie künftig auf gravierende Fälle beschränken soll. Auch soll die Dauer der Unterbringung begrenzt, die Überprüfungsfristen verkürzt und die Anforderungen an die Gutachten der Experten erhöht werden. All das könnte künftig Betroffenen ein Schicksal wie das von Gustl Mollath ersparen.
Was mit Mollath selber passiert, lag in den Händen der Richter am Landgericht Regensburg, die über eine Wiederaufnahme des Prozesses zu entscheiden hatten. Mollaths Verteidigerin hofften zusammen mit ihrem Mandanten und seinen Unterstützern, dass Mollath so bald den Fängen von Justiz und Psychiatern entkommen kann. Diese Hoffnung wurde nun enttäuscht. Es sehe "keine Möglichkeit für eine Wiederaufnahme des Verfahrens", teilte das Gericht mit. Im Zweifel für die Sicherheit?
Dunja Ramadan
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