Irres Golf-Spektakel! "Verrückter als jedes NFL-Stadion"

Irres Golf-Spektakel! "Verrückter als jedes NFL-Stadion"
Irres Golf-Spektakel! "Verrückter als jedes NFL-Stadion"

„Welcome to the loudest hole on earth.“

30 grüne Buchstaben auf weißem Hintergrund, auf Deutsch: „Willkommen zum lautesten Loch der Welt.“

Was ist das, das da für jeden Golfer auf dem Weg zu Bahn 16 des TPC Scottsdale in Arizona in großen Lettern zu lesen ist?

Ein Versprechen? Eine Drohung? Vielleicht nur eine gnadenlose Übertreibung?

TPC Scottsdale: Der Mythos um das 16. Loch

Die Suche nach der Antwort auf diese Fragen beginnt am Mittwochnachmittag einige hundert Meter weiter, zwischen Clubhouse und Haupteingang.

Ein Ordner erklärt die verschiedenen Möglichkeiten, zum 16. Loch zu laufen, ehe er leicht schulterzuckend und lächelnd zu dem Schluss kommt: „Alle Wege führen zur 16.“

Auf Bahn 18, die dem Haupteingang am nächsten liegt, nähert sich gerade einer der ersten Flights des Pro-Am-Turniers dem Clubhouse.

Obwohl das offizielle PGA-Turnier erst am Donnerstag beginnt, wird schon bei diesem Stelldichein mit Teams aus Profis und entweder prominenten oder anderenfalls zumindest wohlhabenden Amateuren klar, dass zumindest der Beiname „The People‘s Open“ für dieses Golf-Event keine Übertreibung ist.

Gute Stimmung bei WM Phoenix Open

Kleine Kinder laufen auf das Fairway, um sich Autogramme der Stars abzuholen. Familienausflügler mit Kinderwagen treffen auf Seniorengruppen, Männer in Shorts und ausgeleierten T-Shirts auf Frauen in Glitzerkleid und High Heels.

In einer Art Partyzelt auf einem riesigen Tribünengerüst läuft laute Musik, es klirren Gläser, eine Konfettikanone wird abgeschossen.

Zum ersten Mal kommt der Gedanke: Wenn es hier schon so zugeht, wie muss es dann erst an der sagenumwobenen 16 aussehen?

Aber bis dahin ist es noch ein Stück, und weil an der 17 gerade abgeschlagen wird, ist ohnehin Geduld gefragt, ehe das Fairway überquert werden kann.

Loch 16 in Scottsdale: „Ich liebe es!“

Links vorbei am Green des 10. Lochs - und auf einmal steht man davor. Vor einer weißen Wand. Von der 16 selbst ist erst einmal nichts zu sehen, denn die ist keine übliche Golfbahn.

Die 16 ist ein Stadion!

Vor der weißen Wand hat sich längst eine lange Schlange gebildet. Wer die Kosten für ein spezielles Armband nicht gescheut hat, erhält an gesonderten Zugängen direkt Einlass. Alle anderen müssen warten, bis ein Ordner grüppchenweise neue Zuschauer hineinlässt - am Wochenende ist es Glückssache, einen Platz zu ergattern.

Bruce, ein Mittsiebziger aus South Phoenix, bahnt sich gemeinsam mit seinem Golffreund und den beiden Ehefrauen gerade den Weg fort von den Menschenmassen. Nicht aber, weil es ihm an der 16 nicht gefällt, wie er betont.

„Ich liebe es! Ich würde gerne mal dort spielen“, sagt er, der als Zuschauer schon bei verschiedenen Golfturnieren in den Vereinigten Staaten war, sogar auf Hawaii: „Aber es gibt nichts, was da heranreicht. Das ist das Aufregendste im ganzen Jahr.“

Und tatsächlich: Im Inneren dieses Stadions wartet die wohl größte Golf-Show auf Erden!

16. Loch: Die Fakten zum Golf-Spektakel

Die sportlichen Fakten: Ein Par-3, 163 Yards (149 Meter) lang. Zwischen dem Abschlag und dem kurzen Fairway vor dem Green ist eine Kakteenlandschaft auf Sand angelegt, durch die ein schmaler Weg führt.

Die Fahne steckt ziemlich genau mittig, aber vier Bunker rund um das Green sorgen für eine gewisse Tücke. Weitaus tückischer aber ist, was drumherum passiert. All das, was einem die Konzentration raubt.

Das wird schnell deutlich, als einer der weniger prominenten Amateure seinen Abschlag nach rechts verzieht. Auf Schienbeinhöhe saust der kleine weiße Ball gegen einen Stein, prallt steil nach oben ab und segelt tatsächlich über die Tribüne hinaus aus dem Stadion.

„Da hat er wohl den Druck gespürt“, meint ein Mann auf der Tribüne lachend. Der Unglücksrabe unten nimmt sein Missgeschick augenscheinlich ebenfalls mit Humor.

Immerhin: So viel Aufmerksamkeit hätte er mit einem besseren Schlag wohl kaum erreicht, schließlich heißt er nicht Michael Phelps. Der Rekord-Olympiasieger ist einer der Topstars des Pro-Am-Turniers und wird entsprechend vorgestellt.

Spektakel um Michael Phelps

Handgestoppte 70 Sekunden dauert allein seine Ankündigung durch den Stadionsprecher, alles untermalt vom Song „Natural“ von Imagine Dragons. Phelps‘ sportlicher Auftritt ist weniger spektakulär, er spielt eine ordentliche Annäherung aufs Green. Anschließend trägt er selbst zum Entertainment bei und wirft Baseball-Caps ins Publikum.

Es ist der genaue Gegenentwurf zu dem, was nur wenige Meter weiter an der 15 vor sich geht. Unter dem Begrenzungsseil sitzt ein Pärchen einsam Arm in Arm, auf der anderen Seite des Wasserhindernisses haben es sich dutzende Enten bequem gemacht.

Hier herrscht Ruhe. Golf, wie man es kennt - wäre da nicht auf einmal „Jump“ von Van Halen, das lautstark von der 16 nach draußen schallt.

Sam Ryder spielt Hole-in-One an der 16

Tatsächlich gesprungen wird dort im Stadion vor allem immer dann, wenn das passiert, worauf jeder Einzelne der rund 20.000 Fans hofft, die hineinpassen. Zuletzt war das am 12. Februar 2022 der Fall.

Sieben Jahre und exakt 2851 Schläge nach dem letzten erfolgreichen Versuch gelang Sam Ryder als zehntem Spieler überhaupt ein Hole-in-One an der legendären 16. Das Video davon ist ein Must-Watch für jeden Golf-Fan, ja eigentlich für jeden Sport-Fan.

Wie die Zuschauer ihre Dosen von sich werfen und sich eine einzige große Bierdusche über die Tribünen ergießt, erinnert mehr an die Dortmunder Südtribüne nach einem Tor des BVB als an einen Golfplatz.

Minutenlang mussten fleißige Helfer die Dosen anschließend wieder vom Rasen aufklauben, ehe weitergespielt werden konnte.

Golf-Star Koepka von Stimmung begeistert

Damit das nicht mehr passiert, sind Dosen an der 16 seit diesem Jahr verboten, das Bier wird in Plastikbehälter umgefüllt. „Souvenir Cup“ nennt der Veranstalter die grünen Becher mit Logo, die die Fans anschließend als Erinnerung mit nach Hause nehmen können.

Ob das die Lösung ist? „Wer sagt, dass die Leute nicht einfach die Becher werfen?!“, meint Carin, die vor dem Stadion Bier verkauft.

Wer einen der sehr leicht biegsamen Becher in die Hand nimmt, merkt aber zumindest schnell, dass deren Flugeigenschaften nicht an die einer Dose heranreichen dürften. Dem Stimmungspegel an und um die 16 tut die Neuerung ohnehin keinen Abbruch.

„Ich liebe es, wenn die Leute sich wie Rowdys verhalten“, meinte Golf-Star Brooks Koepka im vergangenen Jahr: „Sie feuern dich an, wenn du den Ball gut triffst - und sie buhen dich aus, wenn du ihn schlecht triffst. Es fühlt sich fast wie bei einem echten Sport an, wie beim Football, Baseball oder Fußball.“

Sagt der Golfer, der sonst vor allem viel Ruhe gewohnt ist.

Ryan Fitzpatrick: „Verrückter als jedes NFL-Stadion“

Und Ryan Fitzpatrick, der als Quarterback über 15 Jahre bei neun verschiedenen Teams die Stimmung in den größten NFL-Arenen der USA aufsaugen konnte? Er stimmt Koepka uneingeschränkt zu - sogar mehr als das.

„Das 16. Loch ist verrückter als jedes NFL-Stadion, in dem ich jemals gespielt habe“, betont der 40-Jährige im Gespräch mit SPORT1, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

„Es ist zwar Golf“, sagt Fitzpatrick, „aber die Lautstärke und das Energielevel sind ganz besonders. Und je länger der Tag dauert, desto betrunkener sind die Leute.“

Das wird auch am Mittwochnachmittag immer deutlicher: Rund um die 16 wird gelacht und gegrölt, zwei junge Frauen torkeln Arm in Arm einen Hügel hinunter.

Nicht alle feiern das 16. Loch

Nicht alle Golf-Fans finden das gut. Die Bilder nach Ryders Hole-in-One lösten teilweise auch negative Kommentare aus, der eine oder andere Spieler lässt Scottsdale bewusst aus.

Für Golf-Profi Charley Hoffman macht die Dosis das Gift.

„Ich bin froh, dass es eine Woche im Jahr ist. Ich denke, wenn es jede Woche wäre, dann könnte das ein bisschen intensiv sein“, meinte der 46-Jährige im vergangenen Jahr bei USA Today: „Aber für eine Woche ist es definitiv eine Menge Spaß und ich begrüße das.“

Auch beim Auftakt 2023 ist die Stimmung ausgelassen und ausnahmslos positiv, viele Fans sind in Football-Trikots unterwegs, weil in der Super-Bowl-Woche neben Fitzpatrick auch andere NFL-Größen wie Larry Fitzgerald, Reggie Bush, Adam Thielen oder der kürzlich zurückgetretene J.J. Watt beim Pro-Am-Turnier am Start sind.

Scottsdale? „Es ist einzigartig, es ist anders“

Ein Mann in einem Fußballtrikot des FC Bayern sticht aus der Masse heraus. John lebt in Denver/Colorado, seine Familie hat in der Nähe von Phoenix ein Haus, „also komme ich jedes Jahr hierher, um mir das Turnier anzuschauen und ein bisschen der Kälte zu entfliehen“.

Was er dabei auf dem TPC Scottsdale erlebt, ist auch für ihn unvergleichbar.

„Ich weiß nicht, ob es an Arizona liegt, diese Partystimmung, das ganze Drumherum. Es ist einzigartig, es ist anders“, meint der 34-Jährige, „und egal, zu welchem Golfturnier man geht, man wird so etwas nicht finden“.

Passend zu Johns Trikot werden auf dem Weg zurück in Richtung Clubhouse „Bavarian Pretzels“ angeboten.

Zwischen der 17 und der 18 geht es vorbei an einem Müllwagen, der prominent im Gelände platziert wurde. Es ist eine der etwas skurrileren Begleiterscheinungen des Titelsponsors, einem Abfallunternehmen.

Der positive Nebeneffekt: Alle paar Meter stehen Mülleimer, es wird zum Recyclen aufgerufen, Abfall ist hier kein Problem.

J.J. Watt bei Pro-Am-Turnier mit Problemen

Ein sportliches Problem hat hingegen J.J. Watt: Am Abschlag der 18 muss der Ex-NFL-Profi gerade feststellen, dass es einfacher ist, einen sauberen Hit am gegnerischen Quarterback anzubringen als an dem kleinen Golfball vor ihm.

Der Ball, der rechts aus der Bahn heraus ins Gelände segelt, wird ein Fall für die Souvenirjäger. Wer diesbezüglich kein Glück hat, wird im riesigen Merchandise-Zelt fündig, dessen Größe die Veranstalter nach eigenen Angaben in diesem Jahr mal eben verfünffacht haben.

Und natürlich ist auch hier die 16 allgegenwärtig: Von Bällen über Gläser und Untersetzer, Golf-Zubehör und Kleidung gibt es alles mit der besonderen Zahl und dem markanten Stadionumriss zu kaufen - und die langen Schlangen an den Kassen zeigen, dass die Nachfrage groß ist.

Wer bezahlt hat und den Shop durch den Ausgang an der Hinterseite verlässt, landet einige Meter weiter am Green von Loch 2.

Doch ein ganz normaler Golfplatz

Auch hier auf der anderen Seite des Platzes ist der Lärm an der 16 noch zu erahnen, er wird aber übertönt von einem konstanten Brummen.

Dafür verantwortlich sind zwei Handrasenmäher, mit denen an der 2 gerade akkurate Linien in den penibel gepflegten Rasen gemäht werden.

Und auf einmal wirkt dieser ganz spezielle Kurs, die Heimat des „loudest hole on earth“, doch wieder wie ein ganz normaler Golfplatz.